ZU EINER KULTUR DER MÄßIGUNG -Kann der Mensch sich mäßigen?
Autor/in: Prof. Dr. habil. Thomas Vogel (Prof. für Erziehungswissenschaft, Pädagogische Hochschule Heidelberg)
Ausgabe: Leben &. Gesundheit, September / Oktober 2024 - Mäßigkeit
MAßLOSIGKEIT WIRD ZUM STANDARD
Wir leben in einer Kultur der Maßlosigkeit. Die privaten Konsumausgaben stiegen in Deutschland im Jahr 2023 auf 2,03 Billionen Euro und erreichten damit wieder einmal einen Rekordwert. Noch 1991 lagen die Ausgaben bei 867 Milliarden Euro, seitdem sind sie ständig gestiegen. Shoppen ist für viele Menschen eine der beliebtesten Freizeitaktivitäten. Was dabei gekauft wird, gelangt jedoch immer schneller wieder in den Müll. Die Menschheit häuft weltweit jedes Jahr etwa zwei Milliarden Tonnen Abfall an – und es wird stetig mehr. Wenn sich daran nichts ändert, wird sich die jährliche Menge Müll bis 2050 auf 3,4 Milliarden Tonnen steigern.
Ebenso wie die äußere Natur angesichts des menschlichen Wachstumswahns zu kollabieren droht, erkranken immer mehr Menschen physisch und psychisch. Die Zahl derer, die unter Stress, Depressionen oder unter einem Burnout-Syndrom leiden, steigt in den Industrieländern stetig; denn seelische Ressourcen gehorchen den Gesetzen der Ökologie. «Sie regenerieren sich, wenn wir sie mäßig ausbeuten. Wenn aber die Grenze zum Raubbau überschritten wird, kippt das System, schon minimale Belastungen überfordern es», schrieb der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch «Raubbau der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft.»
Allein im Zeitraum zwischen 1991 und 2016 stieg die Verordnung von Antidepressiva von 197 auf 1.467 Millionen Tagesdosen, was einer Steigerung von 745 Prozent entspricht! Eine solche Entwicklung mag auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein, in jedem Fall macht sie deutlich, dass Menschen auf der Suche nach dem rechten Maß für ihr Lebensglück ihr Ziel verfehlen.
SICH MÄßIGEN?
Sich zu mäßigen, erscheint also ebenso schwierig wie angebracht. Doch was soll man sich überhaupt darunter vorstellen? Der Philosophie von Maß und Mäßigung kann man sich sinnvoll über verschiedene Wortbedeutungen ihres griechischen Namens «sophrosýne» als auch der lateinischen Bezeichnung «temperantia» nähern. Der ursprüngliche Wortsinn des griechischen Wortes sophrosýne bedeutete Besonnenheit, womit man zugleich eine besonnene Gelassenheit wie auch eine ordnende Verständigkeit bezeichnete. Sophrosýne stand für eine besondere Klugheit und die Fähigkeit zur (Selbst-)Beschränkung auf das Gute und Wesentliche. Das Bedeutungsfeld von sophrosýne umfasste einen gesunden Verstand, Klugheit, richtige Erkenntnis, Zurückhaltung, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit, Nüchternheit, Anstand, Ordnung und Sittlichkeit. Als Gegenteil von Besonnenheit galten Impulsivität und eine fehlende Affektkontrolle.
Auch der genauere Sinn der lateinischen Übersetzung von Mäßigung mit dem Ausdruck «temperantia» erklärt viel über seine philosophische Bedeutung. Temperantia bezeichnete das ausgleichende Zusammenspiel zwischen Begierde, Mut und Vernunft. Sie wurde als eine Weisheit zur Gestaltung eines harmonischen und glücklichen Lebens gesehen.
WISSEND DAS FALSCHE TUN UND FREUDSCHE THEORIEN
Durch Mäßigung ein harmonisches und glückliches Leben zu finden, scheint uns jedoch mehr als schwerzufallen. Der Mensch scheint nicht gerade dafür prädestiniert, sich mit dem Vorhandenen zu begnügen. Jahrhundertelang mussten unsere Vorfahren in einer Welt des Mangels leben. Das Anhäufen von Vorräten konnte angesichts permanent drohender Krisen zur Überlebensfrage werden. Noch im 14. Jahrhundert starben ca. 15 Prozent der Bevölkerung in England während einer Hungersnot. Zurückhaltung und Beschränkung gehörten deshalb kaum zu den Eigenschaften, die dem Menschen Vorteile verschafften.
Auch die Psychoanalyse liefert Erklärungen, warum Menschen sowohl individuell als auch gesellschaftlich über die existenzbedrohenden Folgen ihres Handelns wissen und trotzdem darin fortfahren. Sigmund Freud war der Auffassung, dass der Mensch von seiner seelischen Veranlagung her zur Mäßigung nur schwerlich fähig sei. Er begründete dies damit, dass das Leben, das dem Menschen auferlegt ist, zu schwer sei und ihm zu viele Schmerzen, Enttäuschungen und unlösbare Aufgaben bringe. Als Ursachen des menschlichen Leids nennt Freud die «Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit des eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln».
Um das Leben ertragen zu können, benötige der Mensch «Linderungsmittel»: Ablenkungen, Ersatzbefriedigungen und Rauschstoffe. Freud sah den einzigen Lebenszweck des Menschen in einem «Programm des Lustprinzips», das von Anfang an den seelischen Apparat beherrsche. Glück sei im «Plan der Schöpfung nicht enthalten». Deshalb seien Glücksmöglichkeiten «schon durch unsere Konstitution beschränkt» und die «uneingeschränkte Befriedigung aller Bedürfnisse» erscheine als «verlockendste Art der Lebensführung».
Freuds Argumentation legt nahe, dass Bedürfnisbefriedigung der Leidabwehr dient. Konsum bietet Zerstreuung und lenkt von den wesentlichen Fragen eines befriedigenden Lebens ab. Auch wenn Freud keinen endgültigen Beweis dafür lieferte, erscheint seine Argumentation überzeugend: Die psychische Grundposition des Menschen in Kombination mit den Regeln des Kapitalismus erschwert Mäßigung erheblich.
Der Mensch scheint nicht gerade dafür prädestiniert, sich mit dem Vorhandenen zu begnügen.
HISTORISCHE PERSPEKTIVE
Rastlosigkeit, Aktionismus und das Streben nach mehr Gütern sind kein neues Phänomen. Schon der griechische Philosoph Sokrates (470–399 v. Chr.) soll beim Anblick der massenhaften Verkaufsartikel gesagt haben: «Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf.» Bereits in der Antike wurde über das rechte Maß philosophiert. Der Vorsokratiker Demokrit (460–371 v. Chr.) sagte: «Wohlgemutheit erringen sich die Menschen durch Mäßigung der Lust und Harmonie des Lebens. Mangel und Überfluss aber pflegt umzuschlagen und große Erregungen in der Seele zu verursachen.»
Demokrit forderte, dass der Mensch sich auf seine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten besinnen und sich mit denen vergleichen sollte, denen es schlechter geht. Dadurch könne er Bescheidenheit üben und Schaden an der eigenen Seele abwenden.
ES GIBT HOFFNUNG
Die Anthropologie beschreibt den Menschen als weltoffen und damit zur Mäßigung fähig. Jean-Paul Sartre formulierte es so: «Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein.» Michel Foucault beschreibt verschiedene Praktiken der Selbstkultur: Zurückhaltung in Speise und Trank, Selbstkontrolle der Begierde, tägliche Reflexion über gelungenes und misslungenes Handeln.
Die Mäßigungsphilosophie sieht nicht Verzicht, sondern Harmonie als Ziel. Sie fordert einen Weg zwischen Zuviel und Zuwenig und stärkt den Menschen gegen vereinnahmende Verhältnisse.
„Die ersten und kostbarsten Güter der Seele besitzt man, wenn die Mäßigung darin wohnt. “