Mehr oder weniger? RAUS AUS DER MAßLOSIGKEIT

 

Autor: Martin Schneeweiß
Ausgabe: Leben & Gesundheit, September / Oktober 2024 - Mäßigkeit

Wir haben so viel und genießen doch oft so wenig. Wie kann das sein?

«Wer der ständigen Verfügbarkeit und der sofortigen Befriedigung widersteht und Bedürfnisse aufschieben kann, hat nicht nur mehr Erfolg im Leben, sondern auch mehr Zufriedenheit.»

«Der sicherste Reichtum ist die Armut an Bedürfnissen.» – Franz Werfel

SEHNSUCHT NACH WENIGER

Als ich mit 19 Jahren einmal ein Vierteljahr auf einer Schweizer Berghütte verbrachte, war ich überrascht darüber, wie gut es sich anfühlte, nur aus einem Koffer zu leben. Ich hatte mir auch nur wenig Geld mitgenommen (für Fotofilme). Es hatte etwas Befreites! Als ich wieder in mein normales Umfeld zurückkam, wunderte ich mich darüber, wie viel ich eigentlich besaß. Ich hatte etliche Kleidungsstücke und Gegenstände völlig ausgeblendet. Ganz offensichtlich brauchte ich nichts davon, um wirklich zufrieden zu sein! Auch Computer und Handy waren dafür nicht nötig. Heute kaum vorstellbar!

Viele Jahre später verließ ein Bekannter von mir sein modernes urbanes Leben sogar noch für eine viel längere Zeitspanne. Er lebte ein Jahr allein in einem Zelt auf einer unbewohnten schwedischen Insel! Er hat seine bemerkenswerte Erfahrung in einem Buch und auf einem YouTube-Kanal beziehungsweise in einer Fernsehsendung verarbeitet. Seine intensiven Erlebnisse in der Natur haben bei vielen Menschen Sehnsucht hervorgerufen. Sehnsucht nach einem anderen Leben, naturnah, entschleunigt und weniger komplex.

«Es gibt vielerlei Lärm, aber es gibt nur eine Stille.» – Kurt Tucholsky

Diese Sehnsucht kommt auch in zahlreichen Trends zum Ausdruck, sei es das minimalistische Einrichten von Wohnungen, das Einhalten von Fastenzeiten (nicht nur auf Nahrung bezogen), Sabbaticals, Klosteraufenthalte und vieles mehr. Die Beratungsplattform «Simplify your Life» vereint viele dieser Trends und bezeichnet ihre Anliegen als «das notwendige Gegengewicht zur zunehmenden Komplexität dieser Welt.»

KONSUM NONSTOP

Während wir uns auf der einen Seite danach sehnen, mit weniger zufrieden zu sein und einfacher zu leben, verhalten wir uns doch oft eher so, als könnten wir nie genug haben. Die Werbung suggeriert uns diverse Bedürfnisse, die sofort befriedigt werden wollen. Vor allem können sie das auch: Fast alles kann innerhalb von wenigen Stunden geliefert werden. Der Kunde ist König! Das verlockende Prinzip «Buy now, pay later» (dt. «Jetzt kaufen, später zahlen») treibt derzeit Tausende junge Menschen in eine Schuldenfalle, da sie den Überblick darüber verlieren, was sie alles angefordert haben.

Doch kennst du das nicht auch? Der Kleiderschrank ist voller gut erhaltener Sachen, aber angesichts der neusten Kollektion meinst du, du hättest nicht genug anzuziehen. Du kaufst dir noch mehr Kleidung, ohne sie wirklich zu brauchen. Oder dein technisches Gerät funktioniert noch einwandfrei, aber es gibt schon ein neueres Modell, das unwiderstehlich in den Regalen funkelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du zugreifst – auch wenn es bei klarem Verstand betrachtet keine guten Argumente dafür gibt.

AUSGELIEFERT?

Maßlosigkeit erleben wir auch in anderen Bereichen: Wir machen uns Vorsätze, gesünder zu essen, aber scheitern daran, weil uns Fertig- und Fast-Food-Produkte mit ihrem hohen Fett-, Zucker- oder Salzgehalt sowie diversen Zusatzstoffen reizen. Wir wissen, dass der stundenlange Handykonsum oder das Herumzappen am Fernseher uns nicht weiterbringt, aber wir hören dennoch nicht damit auf, sondern setzen unsere Muster Tag für Tag fort.

Manche installieren sich sogar Apps auf die Geräte, die ihnen helfen sollen, sich selbst besser zu regulieren, nur um diese dann doch auszutricksen. Aber wie sollen wir diesen ungleichen Kampf auch gewinnen? Hochqualifizierte Entwickler von Silicon-Valley-Firmen arbeiten permanent daran, uns noch länger an die Bildschirme zu binden und nutzen dafür alle unsere psychologischen Schwächen aus.

Wer nicht mit dem zufrieden ist, was er hat, der wäre auch nicht mit dem zufrieden, was er haben möchte.

LUST-VERLUST

Meine Eltern sind in der DDR aufgewachsen. Sie erzählen davon, wie es damals für sie war, sogenannte «Westpakete» zu erhalten. Oft waren darin Konsumgüter verpackt, die in der DDR entweder schwer oder nur in schlechter Qualität erhältlich waren, zum Beispiel bestimmte Schokoladesorten. Ein besonderer Schatz für die Kinder war jedes Glas Nutella. Es wurde sorgfältig gehütet und mit größtem Genuss gemeinschaftlich verzehrt.

Ich möchte nicht in eine falsche «Ostalgie» verfallen. Selbstverständlich schätzen wir alle unsere Freiheit und die vielen Güter, die wir heute verfügbar haben. Dennoch scheint eine ständige Verfügbarkeit von Gütern den Genuss nicht zu erhöhen, sondern zu senken.

Während dies beim Essen noch verkraftbar sein mag, hat es in anderen Bereichen große Konsequenzen: Was macht beispielsweise die ständige Verfügbarkeit von pornografischen Inhalten mit der Beziehungsfähigkeit junger Menschen? Wer möchte sich angesichts eines riesigen Angebots von möglichen Partnern auf Dating-Apps wie Tinder noch verbindlich auf eine Person festlegen? Sogar an unsere Beziehungen gehen wir heute mit einer Konsum- und Wegwerfmentalität heran, während dabei Genuss und Zufriedenheit auf der Strecke bleiben.

WENIGER = MEHR!

«Wer weiß zu leben? Wer zu leiden weiß. Wer zu genießen? Wer zu meiden weiß.» – David Friedrich Strauß

Anders als viele denken, hat echter Genuss etwas mit Mäßigkeit und Selbstbeherrschung zu tun. Diese Tugenden stehen im Verruf, Spaßbremsen zu sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Wer der ständigen Verfügbarkeit und der sofortigen Befriedigung widersteht und Bedürfnisse aufschieben kann, hat nicht nur mehr Erfolg im Leben, sondern auch mehr Zufriedenheit.

Leider können wir nicht darauf warten, dass Wirtschaft, Politik und Soziale Medien uns zu einem maßvollen Leben anleiten. Wir müssen dieses Thema selbst aktiv angehen. Jede Veränderung beginnt mit der Selbstreflexion: Wie steht es um mein Konsum-Verhalten? Wo möchte ich etwas ändern? Was sind das für Situationen, in denen ich in Gefahr stehe, das richtige Maß zu verlieren? Könnte ich in solchen Momenten auch anders reagieren?

SUCHT KOMMT VON SUCHE

Jemand hat einmal gesagt: «Hinter jeder Sucht steckt eine Sehnsucht». Nicht jeder Konsum ist problematisch oder eine Sucht. Dennoch hilft es mir, wenn ich mich frage: Welche Sehnsüchte treiben mich an? Was steckt hinter jenen Konsumentscheidungen oder Verhaltensweisen, die ich hinterher bereue? Was suche ich eigentlich? Vielleicht ist da eine Sehnsucht nach Abwechslung und Spaß? Nach Anerkennung und Besonders-Sein? Nach Liebe? Nach Sinn? Nach Sicherheit und Kontrolle?

Wie könnten meine Sehnsüchte und Bedürfnisse auf eine möglichst gesunde Weise gestillt werden statt in bloßem Konsum? Kann ich mich auf andere Weise belohnen als mit Dingen, die hinterher nur Leere oder sogar ein schlechtes Gewissen zurücklassen?

Was gibt mir im Leben jenen tieferen Sinn, den ich brauche (z. B. Glaube, Familie, Einsatz für Mitmenschen)? Wie kann ich mich auf sinnvolle Art und Weise belohnen? (z. B. Natur, Sport, Musik, Vereine, Hobbys etc.)? Sich und seine Gefühle bewusster wahrzunehmen, ist immer ein Vorteil!

INVESTIERE IN BEZIEHUNGEN!

In einem Experiment sollten sich 38 Studierende in Gruppen von 4–6 Personen für 20 Minuten kennenlernen. Danach sollte jeder zwei Namen von Leuten aus der Gruppe aufschreiben, mit denen er/sie gerne die nächste Aufgabe absolvieren würde. Die Versuchsleiter holten anschließend jede Person einzeln zu sich. Die Teilnehmenden erfuhren vermeintlich, was bei der Auswahl der Gruppenpartner herausgekommen war. In Wirklichkeit war das, was man ihnen sagte, aber willkürlich festgelegt.

Einem Teil der Studierenden wurde gesagt: «Gratulation! Jeder aus der Gruppe wollte die nächste Aufgabe mit Ihnen gemeinsam machen. Da die Gruppen zahlenmäßig nicht aufgehen, würden wir Sie aber bitten, allein zu arbeiten.» Der anderen Hälfte wurde gesagt: «Es tut uns wirklich sehr leid, leider hat keiner aus der Gruppe Ihren Namen aufgeschrieben. Sie werden die nächste Aufgabe allein machen müssen.»

Mit dieser Information gingen die Studierenden in die nächste Runde. Dort sollten sie Schokoladenkekse testen. Sie durften dafür so viele Kekse essen, wie sie wollten. Hier zeigte sich ein aufschlussreiches Verhalten: Die «Abgelehnten» aßen im Schnitt doppelt so viele Kekse wie die «Beliebten»!

Dieses Experiment war Teil einer Serie von Versuchen, die alle darauf hinweisen, dass wir mehr Selbstbeherrschung haben, wenn wir uns gemocht und angenommen fühlen und es uns emotional gut geht. Wenn wir uns ausgegrenzt und abgelehnt fühlen, fällt es uns schwerer, maßvoll und diszipliniert zu sein.

Um maßvoll zu leben, brauchen wir also auch soziale Unterstützung! Wir können bei uns selbst anfangen, indem wir selbst viel mehr in Beziehungen investieren statt in Dinge.

Wer der ständigen Verfügbarkeit und der sofortigen Befriedigung widersteht und Bedürfnisse aufschieben kann, hat nicht nur mehr Erfolg im Leben, sondern auch mehr Zufriedenheit.

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ZU EINER KULTUR DER MÄßIGUNG -Kann der Mensch sich mäßigen?