Geht es auch ohne Medikamente? - SPRECHEN SIE MIT IHREM ARZT
Autor: Dr. med. Karl-Heinz Müller
Ausgabe: Leben & Gesundheit, September / Oktober 2024 - Mäßigkeit
Es ist schon eine Weile her, aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Während eines Praktikums (Famulatur) als Medizinstudent bei einem Landarzt fiel mir auf, dass alle Patienten ein Medikament rezeptiert haben wollten – selbst wenn es sich um eine banale Erkältung handelte.
Wenn man gesundheitliche Beschwerden hat, geht man zum Arzt, denn eine Krankmeldung gibt es nun mal nur dort. Als ich damals den Landarzt auf die Problematik der Medikamentenverschreibung ansprach, sagte er mir: «Herr Müller, es ist tatsächlich nur bei Schwangeren möglich – allerdings auch dort nur mit Müh und Not –, dass diese ohne ein Rezept wieder nach Hause gehen.»
«Warum wenden die Patienten denn keine einfachen Heilmittel an wie zum Beispiel Wickel, Inhalation von ätherischen Ölen, bestimmte Wasseranwendungen oder einfache Kräuteranwendungen?», fragte ich erstaunt nach. «Das ist den Menschen viel zu umständlich, es ist doch viel einfacher, eine Tablette zu schlucken», erwiderte der Landarzt mit einem Seufzen.
ZAHLREICHE VERSCHIEDENE MEDIKAMENTE
Als Geriater (Spezialist für alte Menschen) begegne ich immer wieder dem Problem der Polypharmazie (Einnahme von mehr als 6 verschiedenen Medikamenten gleichzeitig). Patienten mit mehreren Krankheiten nehmen viele Medikamente, weil die Leitlinien für die einzelnen Krankheiten jeweils verschiedene Medikamente empfehlen. Es kann schon sein, dass in einem solchen Fall auch mal 15 verschiedene Medikamente zusammenkommen (inklusive Vitaminpräparate). Besonders auffällig ist diese Tatsache bei Pflegeheimbewohnern.
50 % von ihnen nehmen mehr als 5 Medikamente
24 % mehr als 10 Medikamente
Davon:
42 % Abführmittel
41 % Säureblocker (Magen)
36 % Benzodiazepine (v. a. bei Schlafstörungen)
35 % Antidepressiva
26 % Neuroleptika
35 % Entwässerungsmittel
34 % Schmerzmittel
23 % ACE-Hemmer (Blutdruck)
22 % Beta-Blocker
(Studie: 4.023 Probanden, Onder et al. J Gerontol A Biol Sci Med 2012)
REDUZIEREN STATT ZUFÜGEN
Meine Aufgabe als Arzt ist es, immer wieder nach Möglichkeiten zu suchen, Medikamente zu reduzieren, denn die Auswirkungen der Polypharmazie sind nicht unbeträchtlich:
erhöhte Rate an Wechselwirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen
erhöhte Morbidität und Mortalität (12 % aller Krankenhauseinweisungen aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen)
erhöhter Pflegeaufwand
erhöhte Kosten
Faustformel: Ab 5 Arzneimitteln verdoppelt sich das Nebenwirkungsrisiko, ab 7–8 Medikamenten verdreifacht es sich.
Deshalb:
So wenig wie möglich
So viel wie nötig
Regelmäßige Überprüfung des Medikamentenplans ist unerlässlich. Ziel: immer prüfen, ob eine Reduktion oder ein Absetzen infrage kommt.
SECHS SÄULEN DER LEBENSSTILMEDIZIN:
Vollwertige, pflanzliche Ernährung
Körperliche Aktivität
Erholsamer Schlaf
Stressbewältigung
Vermeidung von Risikosubstanzen
Positive soziale Beziehungen
LEBENSSTILVERÄNDERUNG
Ich bin seit Jahrzehnten als Arzt tätig und kann bestätigen, wie schwer sich Patienten tun, ihren Lebensstil zu ändern, um Krankheiten vorzubeugen oder sie durch Änderung des Lebensstils wieder loszuwerden.
Beispiel Bluthochdruck:
2018 entdeckte ich bei mir selbst deutlich erhöhte Blutdruckwerte – im Schlaganfall-gefährdeten Bereich. Zunächst nahm ich blutdrucksenkende Medikamente, stellte dann aber auf Intervallfasten um:
16 Stunden Fasten
8 Stunden Essenszeit (2 Mahlzeiten: Frühstück 9–10 Uhr, warme Mahlzeit 16–17 Uhr)
Ergebnis:
nach 14 Tagen Medikamentendosis halbiert
nach weiteren 14 Tagen ohne Medikamente
nach einem Jahr 10 kg Gewichtsverlust
LEBENSSTILMEDIZIN IM VORMARSCH
Lebensstilmedizin ist heute ein anerkanntes Fachgebiet zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Typ-2-Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck. Sie setzt auf sechs Säulen:
Pflanzenbasierte Vollwertkost – reich an Ballaststoffen, Antioxidantien, hoher Nährstoffdichte
Regelmäßige Bewegung – körperliche Aktivität + gezielter Sport
Ausreichender Schlaf – mind. 7 Stunden, regelmäßiger Rhythmus
Stressbewältigung – negative Stressreaktionen erkennen, Strategien entwickeln
Vermeidung von Risikosubstanzen – Nikotin, Alkohol, Drogen
Positive soziale Kontakte – fördern emotionale und körperliche Gesundheit
SIEG ÜBER 7 KRANKHEITEN – OHNE MEDIKAMENTE
Harvard-Universität empfiehlt:
Arthritis: Gewichtsreduktion + Bewegung = weniger Schmerzen, mehr Beweglichkeit
Erhöhtes Cholesterin: weniger gesättigte Fette, lösliche Ballaststoffe, evtl. Margarine mit Sterolen
Kognitiver Abbau: Gedächtnistraining + Bewegung
Depressionen: regelmäßige Bewegung als starkes Antidepressivum
Diabetes Typ 2: Sport → Muskeln werden insulinempfindlicher, weniger Zucker und einfache Kohlenhydrate
Bluthochdruck: Gewichtsreduktion, Bewegung, salzarme Ernährung
Osteoporose: Bewegung stärkt Knochen, Vitamin D + Kalzium
ES GIBT HOFFNUNG!
Eine Befragung von über 1.000 Menschen ergab:
45 % der Franzosen
42 % der Deutschen
versuchen, die Einnahme von Medikamenten zu vermeiden.
Appell: Versuchen auch Sie, gemeinsam mit Ihrem Arzt, durch Lebensstiländerung auf Medikamente zu verzichten oder sie zu reduzieren.
„So wenig wie möglich, so viel wie nötig.“