UNSERE WORTE: Heilmittel oder Gift?
Autor/in: Günther Maurer (Gesundheitsberater und Seelsorger)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, November / Dezember 2023 Beziehung
«Es gibt nur wenige Medikamente oder Heilmittel, die mächtiger und wirkungsvoller sind als ein sorgfältig ausgewähltes Wort.»
Das Zitat oben schrieb der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1985, der Kardiologe Bernard Lown, in seinem Buch «Die verlorene Kunst des Heilens». So weit, so gut – mögen Sie nun denken. Wenn ein berühmter Mediziner das feststellt, gibt es daran nichts zu rütteln. Nicht weniger richtig ist die Feststellung von Jean-Paul Sartre (1905–1980, frz. Philosoph und Schriftsteller): «Worte sind geladene Pistolen.»
SPRACHE BERÜHRT
Alle Menschen dieser Welt leben im Einflussbereich von Worten – wir selbst «verlieren» diese manchmal achtlos dahingesagt, zuweilen jedoch auch gezielt aufbauend oder abwertend im Gespräch und werden von ebensolchen überschwemmt. Niemand kann die offensichtliche Wirkung von Worten leugnen oder sich deren Effekte entziehen. Wer einen spannenden Roman liest, eine Liebeserklärung gemacht bekommt oder in einen heftigen Streit gerät, verspürt hautnah, dass Sprache berührt. Worte können trösten oder tief verletzen, manche beflügeln uns, andere lähmen jegliche Energie und hängen uns tage- oder gar jahrelang nach. Zwischen beiden Polen leben und handeln wir. Könnten wir es uns aussuchen, würde jeder das erfrischend stimulierende Wohlgefühl guter Worte wählen und das toxische Klima verletzender Aussagen meiden. Die Macht von Worten in unserem Leben ist viel zu wichtig, als dass wir diese einfach als Zufallsprodukte an uns abprallen lassen könnten.
FÜR-, MIT- ODER GEGENEINANDER?
Worte haben – wie wir schon festgestellt haben – eine enorme Wirkung. Sie können uns zum Lachen und zum Weinen bringen. Sie können uns ermutigen, etwas zu tun oder mit etwas aufzuhören. Worte bauen auf oder reißen nieder. Aus guten Worten schöpfen wir Hoffnung und Kraft, verletzende Aussagen jedoch rauben uns unser Vertrauen und oft auch jegliche Vitalität. Das Thema «Unsere Worte: Heilmittel oder Gift» ist nicht zufällig gewählt, denn niemand kann sich der Wirkungsweise von Sprache entziehen, weil sich unser Für-, Mit- oder Gegeneinander davon nährt. Worte können das Verhalten negativ beeinflussen und über einen langen Zeitraum hinweg nachwirken.
Ein dazu passendes Beispiel hörte ich von einer Bekannten, die mir in einem Gespräch erzählte, warum sie bis heute (sie ist inzwischen 60 plus) keine Hosen trägt: In ihrem Fall waren es neun Worte, die eine lebenslange Wirkung zeigten. Sie war als 12-Jährige auf dem Bauernhof ihrer Tante zu Besuch. Abends, nach getaner Arbeit, saßen die Tante, der Onkel, ein paar Angestellte und ihre Cousinen in der milden Abendsonne zufrieden vor dem Haus, als die Tante sie plötzlich eingehend musterte und etwas abschätzig feststellte: «Du hast die typischen Oberschenkel unserer Großmutter, wie Sauerkrautstampfer.» Kein weiteres Wort fiel. Aber diese Aussage hatte Folgen. Bis heute trägt die Dame nur Kleider und Röcke, um den vermeintlichen Makel darunter zu verstecken.
Vielleicht fällt Ihnen beim Lesen dieser Zeilen auch ein Beispiel dafür ein, wie Sie emotional verletzt wurden. Auch wenn man sich bewusst macht, dass eine abwertende Aussage gar nicht der Wahrheit entspricht, bleibt die Verletzung und wird mit jedem ähnlichen Gedankenansatz getriggert – selbst wenn es sich dabei um andere Personen handelt.
PISTOLE ODER WERTSCHÄTZUNG?
Besonders weh tut es, wenn negative Worte von Beziehungsmenschen geäußert werden. Persönliche Beziehungen zum sogenannten Kommentator (Eltern, Partner, Freunde, …) vertiefen die emotionalen Wunden – denken Sie an den Ausspruch Sartres «Worte sind geladene Pistolen.» Ein aufrichtiges und spontanes Kompliment dagegen zaubert blitzartig ein Lächeln in das Gesicht eines Gegenübers, denn bei jeder vermittelten Wertschätzung (wofür das Kompliment nur ein einfaches Alltagsbeispiel ist) produziert das Zwischenhirn automatisch Wohlfühlhormone. Durch sie wird ein fruchtbarer Boden für eine weitere Kommunikation aufbereitet.
Vor Jahren habe ich sehr oft Sommer- und Winterfreizeiten organisiert und war sowohl mit Kindern als auch Teenagern regelmäßig in Camp-Ferien. Nicht selten erlebte ich dabei die ansteckende Wirkung von Negativaussagen. Die Gruppe wurde zum Mittag- oder Abendessen gerufen und nach dem erwartungsvollen «Mmhh, was gibt es wohl heute Leckeres?» kam es regelmäßig vor, dass dem einen oder anderen Kind das Essen nicht schmeckte. Es zog die Mundwinkel nach unten und sagte unüberhörbar: «Bäh, grauslich!» Und im Nu ging das Wort «Bäh» von Mund zu Mund und wurde dadurch zu einer negativen Klangwelle, die zuweilen das Essen übrigbleiben ließ, noch bevor es gekostet worden war.
Gefallene Worte kann man nicht mehr wieder aufheben.
ANSTECKENDE KLANGWELLEN
Das gibt es aber nicht nur bei Kindern – auch im Krankenhaus, Altersheim und in Institutionen im Allgemeinen sind Klangwellen der Klage ansteckend. Man kann sich über alles negativ äußern. Das Essen ist schlecht, die Betreuung unzureichend, das Personal inkompetent, … Wenige finden dann den Mut (selbst wenn sie die Mängel persönlich nicht empfinden), dagegenzuhalten und auf Positives hinzuweisen. Sollten Sie es jedoch schon mal probiert haben, werden Sie feststellen, dass auch das Gute, das verbal formuliert wird, Anhänger findet und die Abwärtsspirale stoppen kann.
Als Seelsorger bin ich häufig in verschiedenen Altersheimen zu Besuch und versuche, bei Klagen interessiert nachzufragen. Dabei erlebe ich immer wieder, wie sich die Stimmung der Bewohner plötzlich wandelt und sich alles zurechtrückt. «Das Essen ist nicht immer schlecht, die Betreuung meist sehr hingebungsvoll und freundlich, das Personal durchaus bemüht, …»
Ein bekannter Kinderreim wie zum Beispiel «Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht» macht deutlich, dass es Dinge gibt, die in ungeübten Händen gefährlich werden können. Wer mit Messern im übertragenen Wortsinn dieses Artikels, mit Pistolen oder Heilmitteln hantiert, sollte vorsichtig, vor allem jedoch verantwortungsvoll damit umgehen. Ich nehme mir immer wieder aufs Neue vor, sehr bewusst Worte zu wählen, die mir und auch anderen Kraft geben und guttun.
DIE WIRKUNG GUTER WORTE
Wer für sich selbst und sein Gegenüber gute Worte wählt, erlebt deren erhellende und heilende Wirkung. «Durch das Gespräch mit dir ist mir vieles klarer geworden.» «Unser Austausch hat mir wirklich gutgetan.» «Weil ich mir dieses Problem von der Leber reden konnte, geht es mir nun viel besser.»
Bereits William Shakespeare (1564–1616) erkannte, dass ein vertrauliches Gespräch heilend und lebensrettend sein kann. In der von ihm verfassten Tragödie «Macbeth» schreibt er: «Gib Worte deinem Schmerz. Gram, der nicht spricht, presst das belad‘ne Herz, bis dass es bricht.» – in Worten von heute formuliert: «Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht.»
Jeder kann für andere zum Ermutiger werden. In der Familie, im Freundeskreis, bei der Ausbildung und im Berufsleben werden authentische Menschen gebraucht, die sich dafür entschieden haben, für sich selbst und für andere gute Worte zu wählen.
Worte kann ich auch an mich selbst richten. Wer für sich in Formulierungen denkt wie «Es ist mir alles zu schwer», «Ich schaffe das sowieso nicht», «Ich bin völlig inkompetent», «Ich bin absolut hässlich», der füttert sein Gehirn mit Wegweisern, die ihn in eine völlig falsche Richtung führen. Diese selbsterdachten und zugesprochenen Worte rauben Energie, zerstören jegliche Motivation, demolieren das Selbstvertrauen und vernichten alle Erfolgschancen. Ganz anders wirken Worte wie: «Ich mach das und lerne dazu», «Es ist möglich, das zu schaffen», «Dafür setze ich mich ein». Es geht nicht darum, sich etwas schönzureden, aber Worte richten uns entweder auf oder ziehen uns hinunter.
Wer es gewohnt ist, mit sich selbst und anderen negativ zu kommunizieren, trainiert sein Gehirn in genau diese Richtung. Und dann kommen entsprechend vernichtende Worte «wie aus der Pistole geschossen» aus unserem Mund, bevor es uns noch gelungen ist, darüber nachzudenken. Jeder von uns hat die Möglichkeit, seine Sprache, seine Worte und Gedanken zu ändern. Selbst wenn wir dabei «Lehrlinge» bleiben, schenken wir uns und anderen damit ein Stück Lebensqualität. «Wir sind alle Lehrlinge in einem Handwerk, in dem niemand zum Meister wird», meinte schon Ernest Hemingway.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie heilsam oder gefährlich unsere Worte für uns selbst und andere sind, tun wir gut daran, uns eine positive Ausdrucksweise anzugewöhnen. Wir können uns dafür entscheiden, eine positive Denk- und Ausdrucksweise zu unserer Lebensart zu machen. Rückschläge sollten uns dabei nicht entmutigen. So langsam wie Kinder das Sprechen erlernen, genauso dauert es seine Zeit, unsere Sprache neu zu formatieren.
GABE UND GESCHENK
Die Gabe zum Erlernen des Sprechens wurde uns in die Wiege gelegt. Wie schmerzvoll ist die Erkenntnis für Eltern, wenn ihr Kind nicht richtig sprechen kann. Somit ist die Sprache ein Geschenk, das – recht genutzt – unser Umfeld zu einem besseren und schöneren Ort macht.
Sie selbst profitieren am allermeisten und alle, die Sie lieben, werden es bemerken – es ist bereichernd und aufbauend, ein Heilmittel der besonderen Art: das GUTE WORT!
Ich will mich neu darum bemühen, vermehrt darauf zu achten, die Arznei der guten Worte gerne und großzügig zu verwenden.
„Die Macht von Worten in unserem Leben ist viel zu wichtig, als dass wir diese einfach als Zufallsprodukte an uns abprallen lassen könnten.“