Demenz DIE BRILLE AM HANDGELENK – das Handy im Kühlschrank
Autor/in: Hanna Klenk (Fachfrau Langzeitpflege und -betreuung)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, November / Dezember 2023 - Beziehung
Die Diagnose «Demenz» hat Zerstörungskraft. Wie macht man das Beste daraus?
Eine mögliche Demenzerkrankung schwebt wie ein Damoklesschwert über mir, je älter ich werde. Die Nachricht, dass im Bekanntenkreis jemand, der wenig älter oder sogar noch jünger ist als ich, auf eine E-Mail nicht mehr antworten kann und Unterstützung braucht, um seine administrativen und finanziellen Angelegenheiten zu regeln, erschreckt mich. Was kommt da auf mich zu? Verliere auch ich einmal die Fähigkeit, selbstbestimmt zu leben? Da vergeht einem das Lachen und die Freude am Leben – oder doch nicht?
MIT HUMOR KLAPPT ES – ODER DOCH NICHT! WAS SOLL’S?
Nach mehreren erfolglosen Versuchen treffe ich Frau M. wach an. Mit dem Spruch: «Die Kammerfrau meldet sich zum Dienst!» begrüße ich sie und ernte ein Lachen. Nachdem Körperpflege und Ankleiden erledigt sind, bleiben noch Brille und Uhr, um startklar zu sein. Da mir als Pflegende die Zeit zum Rapport knapp wird, erkläre ich Frau M., was noch fehlt und reiche ihr die Brille. Sie hat noch das Wort «Uhr» im Gedächtnis und probiert nun, die Brille am Handgelenk zu montieren, was auch nach mehreren Versuchen nicht funktioniert. Als sie am Frühstückstisch sitzt, reiche ich ihr erneut die Brille – diesmal ohne Kommentar – und sie kann sie ohne Probleme aufsetzen (die Uhr lasse ich mal sein). Beim Nachdenken über die Situation merke ich, dass der Grund des Misslingens auf meiner Seite lag. Ich werde immer nur eine Unterstützung auf einmal anbieten, kein Grund zum Stress. So kann Beziehung und der Alltag mit Demenzerkrankten gelingen. Im Nachhinein kann (und darf) ich auch über die Komik der Begebenheit lachen.
DEMENZERKRANKUNG – DROHENDE GEFAHR?
Zahlreichen Menschen macht der Gedanke, vielleicht einmal an Demenz zu erkranken, große Angst. Man kann sich nicht darauf vorbereiten; alle vorbeugenden Maßnahmen nützen scheinbar nichts: Keiner ist gefeit, der Feind schlägt ohne Vorwarnung zu! Kann man dem Ganzen auch etwas Positives abgewinnen oder bin ich dem Geschehen als Betroffene oder Angehörige machtlos ausgeliefert? Wie soll es bloß mit unserer Beziehung weitergehen?
DER LEBENSFLUSS
Die Erkrankung kann mit einem Bild deutlicher gemacht werden. Ich bin in der Zeit meiner Lebensreise in einem Boot unterwegs auf einem Fluss. Die Strömung treibt mich sanft voran, ich lege mal an diesem, mal an jenem Ufer an, steige aus, erlebe Abenteuer, beschleunige zusätzlich durch kräftiges Rudern. Es gelingt mir auch, gegen den Strom zu steuern. Irgendwann auf meiner Reise spüre ich, wie die treibende Kraft größer, die Vorwärtsbewegung schneller wird. In der Ferne höre ich ein Tosen und Brausen. Ein nahender Wasserfall, eine Stromschnelle? Ich versuche, mein Boot an Land zu steuern, kämpfe gegen die immer reißendere Strömung an, gerate in Panik, rufe um Hilfe – nichts nützt! Der Strudel reißt mich über die Kante, ich stürze, falle, gehe unter, komme hoch, schnappe nach Luft und leide furchtbare Angst. Einmal dahinter oder unten angekommen, treibt das Boot wieder in ruhigem Wasser voran, die Erinnerung an das durchlittene Durcheinander verblasst, ich kann wieder lachen und mich an kleinen Dingen freuen.
Die Phasen einer Demenzerkrankung werden von jedem Betroffenen unterschiedlich erlebt, spielen sich aber meist ähnlich ab. Das Brausen und Drohen wird wahrgenommen, aber oft reichen Strategien wie Verstecken, Überspielen, Verdrängen und Kompensieren aus, um das Geschehen vor der Familie und im Arbeitsumfeld zu verbergen. Ich finde nicht die richtigen Worte und ersetze sie mit etwas anderem. Ich lache über die Vergesslichkeit. Ich schreibe Merkzettel, halte mich an starre Gewohnheiten, um nicht aufzufallen. Meine Angst und Unsicherheit überdecke ich mit lässigen Sprüchen, meine Stärken übe ich spielend leicht aus.
Frau Z. strickt wie gewohnt und seit Jahrzehnten geübt Socken und Socken und Socken. Herr B. sitzt am Klavier und rattert die bekannten Walzer oder Jazzmelodien herunter, und Frau H. berichtet Reiseerlebnisse. Bekannte Webseiten werden noch und noch aufgerufen. Scheinbar funktioniert noch alles, aber im Hintergrund lauern Angst, Unsicherheit und Aggression. Die Entwicklung einer Demenzerkrankung kann sich über eine lange Zeit hinziehen und bleibt oft unbemerkt, bis es gar nicht mehr geht, die Sicherheit gefährdet ist, eine ärztliche Diagnose erfolgt und der Eintritt in eine Institution in Erwägung gezogen werden muss, weil das ganze Umfeld überfordert ist. Manche Patienten bleiben in den Stromschnellen stecken, andere erreichen nach einer bewegten Zeit des Umbruchs ruhigere Gewässer.
MEDIZINISCHE UND PFLEGERISCHE DIAGNOSEN
Demenz hat viele Gesichter und unterschiedliche Verläufe. Generell unterscheiden Mediziner drei Typen: 1. Alzheimerdemenz, 2. Vaskuläre Demenz, 3. der gemischte Typus. Im pflegerischen Bereich wird nur zwischen akuter und chronischer Verwirrtheit abgegrenzt. Leider wird oft zu wenig in Betracht gezogen, dass körperliche Ursachen zugrunde liegen könnten. Eine akute Verwirrtheit kann zum Beispiel nach einer Operation mit Narkose auftreten. Eine Infektion wie Blasenentzündung, eine Verstopfung oder Schmerzempfindungen, egal, wo die Ursachen liegen, binden Kräfte; überdosierte Medikamente mit ihren Nebenwirkungen beeinträchtigen nicht nur den Körper, sondern den gesamten Menschen. Die Ursachen und Ausprägungen mögen unterschiedlich sein, der Umgang mit Demenzerkrankten richtet sich aber immer an den individuellen Stärken oder Ressourcen und den bestehenden Herausforderungen aus. Sind bestimmte Hirnregionen von einer Erkrankung betroffen, kann sich das beispielsweise in einem hohen Drang zur Bewegung äußern. Die Menschen sind ständig unterwegs und kommen nirgends zur Ruhe. Andere sind enthemmt, zeigen Verhaltensweisen, die man in ihrem bisherigen Leben nie wahrgenommen hat, sie haben sich drastisch verändert. «Ich kenne meinen Partner nicht mehr!» Erklärungen und genaue Diagnosen helfen im Alltag wenig – Schimpfen, die Aufforderung, sich zusammenzureißen, Strafen oder Drohungen nützen noch weniger. Kurz: Der Mensch und seine Gewohnheiten verändern sich zum Teil massiv, und damit kann eine herzliche, wohlwollende und langjährige Beziehung sehr leicht ins Wanken kommen! Das ist – und das möchte ich ausdrücklich betonen – ganz normal!
Die Bedürfnisse sind noch genau dieselben, sind immer präsent, vielleicht verstärkt, oder sogar übertrieben.
PERSÖNLICHKEITSVERLUST ODER -VERÄNDERUNG?
Eine Demenzerkrankung bedeutet immer, dass Ressourcen verloren gehen, dass psychische Abwehrmechanismen, die bisher gut funktioniert haben, nicht mehr greifen. Es bleibt aber mehr erhalten – oder wird sogar neu gelernt. Frau B. kommuniziert nach wie vor in drei Sprachen und sie spürt, wie es ihrem Gegenüber geht. Ihre Gefühle wirken sich intensiver aus. Sie kann laut herauslachen, sammelt Tannenzapfen und schöne Steine, freut sich an ihren Funden, auch wenn sie dabei die Zeit oder sogar den Weg nach Hause vergisst. Gerüche nimmt sie intensiv wahr, denn sie wecken Erinnerungen. Sie wird zurückversetzt in ihre Kindheit, erzählt vom Heumachen, Milchholen, Kälbchenstreicheln. Ein besonderes Musikstück, ein altbekanntes Lied löst das Gefühl von Geborgenheit, Nähe, Angenommensein aus. Die Bedürfnisse sind noch genau dieselben, sind immer präsent, vielleicht verstärkt oder sogar übertrieben. Da muss ich mir als Bezugsperson die Frage stellen, wie es mit meinen eigenen Gefühlen bestellt ist. Kann ich es aushalten, meine verwirrte Mutter in die Arme zu nehmen, auch wenn wir früher nie «gekuschelt» haben, wenn sie vielleicht gerade nicht sehr sauber riecht oder sich nicht mehr an die Namen ihrer Enkelkinder erinnern kann? Meine Mutter ist immer noch die Frau, die mich geboren und über viele Jahre begleitet hat. Sie ist und bleibt die Person, zu der sie sich im Lauf ihres Lebens entwickelt hat. Sie ist meiner Liebe und Zuwendung würdig, verdient sie. Aber ich sollte mir auch keine Vorwürfe machen, wenn ich es kaum mehr schaffe, ihr zu begegnen. Das Gegenüber leidet genauso mit und sollte darauf achtgeben, sein eigenes Leben und Wohlbefinden nicht aus den Augen zu verlieren!
DIE ALLTÄGLICHE LEICHTIGKEIT
Demenzerkrankte Menschen leben im Hier und Jetzt. Sie vergessen, was sie vor fünf Minuten erlebt haben, wozu ein Löffel dient, wie man Schuhe bindet – aber sie sind geschickt darin, Defizite und Wissenslücken auszugleichen. Menschen können auch im fortgeschrittenen Stadium einer Demenzerkrankung interessante Geschichten aus ihrer Kinder- und Jugendzeit zum Besten geben. Je nach Blickwinkel und Fokus ist mein Gegenüber nicht dumm und vergesslich, sondern gewitzt und reich an Erfahrung.
Herr T. äußert wochenlang den Vorwurf, jemand habe sein Handy gestohlen. Alles Suchen und Wühlen bringt das Teil nicht zum Vorschein. Da holt er wieder einmal einen Joghurt aus dem Kühlschrank – und siehe da, das Gesuchte liegt still dahinter! Wer hätte das gedacht?! Der Vorwurf des Diebstahls ist aus der Welt. Nimm die Dinge nicht zu ernst, schau darüber hinweg, gib der Sache nicht zu viel Gewicht und das tägliche Miteinander gelingt besser.
Frau F. hat «eine Karriere» in verschiedenen Heimen hinter sich, konnte während fünf Jahren nicht gebadet werden, schreit, kratzt, beißt, schlägt um sich, wenn ihr etwas querkommt. Im Team suchen wir nach angemessenen Reaktionen gegenüber dieser schwierigen Situation. Wir alle wissen, wie sich ein Tier verhält, wenn es in die Enge getrieben wird. Zunächst verkriecht sich die Katze in eine Ecke. Wird sie aber nicht in Ruhe gelassen, geht sie zum Angriff über, um sich aus der bedrohlichen Situation zu befreien. Ähnlich geht es einem Menschen, der absolut nicht einsehen kann, warum er jetzt unter die Dusche gestellt werden soll, wenn jede Berührung Schmerz auslöst, wenn die angebotene Pflege Angst macht. Die betreuende Person soll mehrere Versuche starten. Manchmal hilft es, Zeit vergehen zu lassen, um den nächsten Schritt vorzubereiten. «Zieh dich zurück», rate ich der überforderten Lernenden. Hilfreich ist auch, wenn jemand anderes übernehmen kann. Ein neues Gesicht, eine fröhliche Stimme bewirken vielleicht einen anderen Zugang. Eine gewisse Leichtigkeit im Alltag hilft viel.
„Demenzerkrankte Menschen leben im Hier und Jetzt … und sind geschickt darin, Defizite und Wissenslücken auszugleichen.“