Bewegung belebt
Autor/in: Dr. med. Ruedi Brodbeck (Hausarzt, Psychosomatiker)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, Februar/2014 - Bewegung
Über die erstaunlich vielseitigen, positiven Auswirkungen regelmässiger körperlicher Aktivität.
Wenn ich an einem dunklen Wintermorgen merke, dass ich Mühe habe, aus dem warmen Bett und in die «Gänge» zu kommen, hilft mir eine kurze, intensive Bewegungseinheit auf meinem Cross-Trainer. Spätestens nach der folgenden Dusche fühle ich mich völlig wach, neu belebt, leistungsfähig.
Wenn ich an einem Sommerabend von einem langen Praxistag müde und erschöpft bin und trotzdem noch einen Spaziergang entlang dem nahegelegenen Fluss mache, mit meiner Frau zu einer kurzen Ausfahrt mit dem Tandem aufbreche oder im See schwimmen gehe, dann fühle ich, wie die Last des Tages schwindet; ich komme wieder zu mir selber, fühle mich neu belebt.
Manche behaupten, Sport sei Mord. Ich erlebe ihn als wohltuend. Entspringt dies bloss subjektiver Wahrnehmung, oder ist mehr daran? Leben Langläufer wirklich länger – oder sehen sie bloss älter aus? Oder – noch schlimmer – sterben sie bloss gesünder?
Ein Blick in die Medizingeschichte
In der Geschichte der Medizin wurde schon früh die Bedeutung von körperlicher Aktivität für die Gesundheit beschrieben. Erste Berichte stammen aus der Zeit um 2500 v. Chr. Im alten China wurden gezielt körperliche Bewegungsübungen zur Förderung der Gesundheit empfohlen. Schon die wohlbekannten Ärzte der Antike, Hippokrates (460–370 v. Chr.) und Galen (129–210 n. Chr.), hatten beide auf die gesundheitlichen Vorteile körperlicher Aktivität sowohl vorbeugend empfohlen als auch therapeutisch verschrieben.
Im 19. Jahrhundert behauptete der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche:
„Wer sich stets zu viel geschont hat, der kränkelt zuletzt an seiner vielen Schonung.“
Und Ellen White, eine amerikanische Gesundheitsreformerin, ergänzte:
„Es sterben mehr Menschen aus Mangel an körperlicher Bewegung als an Überanstrengung.“
Bewegungsmangel ist die Ursache vieler Krankheiten.
Die moderne wissenschaftliche Medizin hat ihre Wurzeln ebenfalls im 19. Jahrhundert. Es dauerte allerdings bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, bis eine erste Studie auf einen engen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und dem Auftreten von Krankheiten hinwies.
Der Vergleich zweier Berufsgruppen zeigte, dass die körperlich aktiven Schaffner der berühmten Londoner Busse deutlich weniger Herzinfarkte erlitten als ihre körperlich weniger aktiven Chauffeure. Ähnliche Untersuchungen, z. B. der Vergleich zwischen Schalterbeamten der Post und Briefträgern, bestätigten diesen Zusammenhang.
Was weiss man heute? Wirkt Bewegung, und wenn ja, wie? Wie viel benötigt man? Gibt es auch ein Zuviel?
Muskeln, Knochen und Gelenke
Der primäre Wirkungsort von körperlichem Training sind die Muskeln. Es ist allgemein bekannt, dass es nicht nur zu einer Volumenzunahme kommt, sondern auch zu einem Gewinn an Kraft und Ausdauer. Dies kommt durch Anpassungsvorgänge innerhalb des Muskelgewebes zustande.
Es werden mehr Muskelfasern vom sogenannten Typ 1 oder S-Fasern gebildet. Im Vergleich zu den Typ 2- oder F-Fasern enthalten diese eine grössere Zahl von Mitochondrien (den Kraftwerken der Zellen), diese werden besser mit Blut versorgt (mehr Kapillaren), sie sind leichter in der Lage, Fettsäuren abzubauen, können mehr Sauerstoff aufnehmen und länger ihre hohe Leistung erbringen.
Gemäss neueren Erkenntnissen steuert Bewegungstraining über regulatorische Prozesse auch den Abbau alter und verbrauchter und den Aufbau neuer Mitochondrien und verbessert somit deren Qualität.
Wer seine Muskeln trainiert, erhält sie tatsächlich jung! Die Wirkung auf Knochen und Gelenke ist ebenfalls günstig. Der Knochen wird fester und die Gelenksfunktion bleibt länger erhalten, was auch für bereits vorgeschädigte Gelenke (z. B. Arthrose in Hüften und Knien) günstig ist.
Ein (adaptiertes) Bewegungstraining wird deswegen bei Muskel-, Knochen- und Gelenkserkrankungen empfohlen, speziell auch bei rheumatoider Arthritis, Fibromyalgie und Osteoporose.
Herzkreislauf und Stoffwechsel
Eine sitzende Lebensweise oder körperliche Inaktivität gilt heute hinter Zigarettenrauchen, hohem Blutdruck und erhöhtem Cholesterin als vierter grosser Risikofaktor für die Entwicklung der koronaren Herzkrankheit.
Diese Risikofaktoren gilt es zu eliminieren. Folgerichtig ist deshalb ein angepasstes körperliches Training auch als Behandlung von Herz-Kreislauf- oder Lungenpatienten nicht mehr wegzudenken. Der Herzmuskel wird dadurch gestärkt, die Atemmuskulatur und Atemmechanik werden verbessert.
Nur ein Teil des gesundheitsfördernden Effekts von Bewegung ist durch direkte Anpassungen im Bereich des Herzmuskels (wie oben beschrieben) und durch die verbesserte Blutzirkulation zu erklären.
Ein wesentlicher Teil der günstigen Wirkung erfolgt durch Veränderungen im Bereich des Fettgewebes. Das Muskelgewebe beeinflusst nämlich über rund 400 verschiedene hormonähnliche Botenstoffe, sogenannte Myokine, auch die Funktion anderer Gewebe.
Zusätzlich beeinflusst Bewegung auch wichtige epigenetische Mechanismen, die den Aktivitätsgrad unserer Gene steuern. In der Summe führt dies zu folgenden Veränderungen:
bessere Regulation des Zuckerhaushalts, erhöhte Insulinsensitivität, Verminderung bei manifester Zuckerkrankheit Typ 2
günstige Zusammensetzung des Fettgewebes, Reduktion des Bauchfetts und Verbesserung der Gewichtskontrolle
verbesserter Fett- und Cholesterinstoffwechsel, Verminderung des gefährlichen LDL-Cholesterins und der Triglyzeride, Erhöhung des schützenden HDL-Cholesterins
Reduktion systemischer Entzündung
Senkung des (erhöhten) Blutdrucks
bessere Funktion des autonomen Nervensystems, bessere Darmtätigkeit
besserer Blutfluss, verminderte Blutkoagulation (Verklumpung), bessere Endothelfunktion (bessere Funktion der inneren Oberflächen-Zellen der Blutgefässe, was vor Verkalkungen schützt)
All diese Effekte zusammen bewirken, dass körperliche Aktivität bei der Arbeit oder in der Freizeit das Risiko für Herzinfarkt oder nächtliche Bluthochdruckkrisen dramatisch senken kann.
Möchten Sie auf ein so wirksames „Medikament“ verzichten?
Wer rastet, der rostet – Bewegung ist das natürlichste Heilmittel, das der Mensch besitzt.
Positive Auswirkungen von Bewegung
bessere Darmtätigkeit
bessere Funktion des vegetativen Nervensystems
stärkere Knochen
bessere Gelenksfunktion
Senken des Triglyzerinspiegels
mehr HDL
weniger LDL
niedrigerer Blutdruck
geringere Gefahr von Blutgerinnseln
bessere Funktion des Endothels (Endothel = Zellschicht, welche die Blutgefässe auskleidet)
bessere Glukose-Homöostase
bessere Insulin-Empfindlichkeit
gesteigertes seelisches Wohlbefinden
weniger Angst und Depression
bessere Wahrnehmung und besseres Gedächtnis
qualitativ besserer Schlaf
langsamerer Rückgang der geistigen Fähigkeiten im Alter
Stärkung des Nervensystems
weniger Bauchspeck
bessere Gewichtskontrolle
Blutdruck
bessere Durchblutung des Herzens
bessere Herzfunktion
Stärkung der Mitochondrien
bessere Fettsäuren-Verbrennung
bessere aerobe Kapazität
weniger Schmerzen
weniger Sucht / Abhängigkeit
bessere Funktion des Immunsystems
weniger Krebserkrankungen
besseres Therapieansprechen
weniger systemische Entzündungen
Psyche und Hirnfunktion
Was für das Herz gut ist, schützt auch das Gehirn. So erstaunt es nicht, dass regelmässige körperliche Aktivität auch viel zum seelischen Wohlbefinden und zum Stressabbau beiträgt.
In der Therapie der meisten psychischen Erkrankungen ist ein günstiger Effekt von körperlicher Aktivität gut nachgewiesen, insbesondere bei Depressionen, Angststörungen, Phobien, Posttraumatischen Belastungsstörungen, Schizophrenie, Nikotinabhängigkeit und Essstörungen.
Bemerkenswert finde ich, dass bei den häufigen Angststörungen und Depressionen die Bewegungstherapie von verschiedenen Autoren als gleich wirksam beurteilt wird wie eine Standardtherapie mit Medikamenten und/oder Psychotherapie.
Wirksam ist Bewegung auch in der Vorbeugung und Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder anderen Demenzen.
Regelmässiges Training verbessert die sogenannten kognitiven Funktionen wie Gedächtnis, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Sprache. Wie Bewegung aufs Gehirn wirkt, ist noch nicht völlig geklärt.
Gesichert gilt eine Normalisierung von bei Krankheiten erniedrigten Spiegeln von BDNF (brain-derived neurotrophic factor), einem für das Gehirn wichtigen Wachstums- und Schutzfaktor.
Bewegung führt zu einer Verbesserung der neuronalen Plastizität, der Fähigkeit der Nervenzellen neue Verbindungen einzugehen, was eine Voraussetzung für sämtliche Lern- und Gedächtnisprozesse und auch für den Erhalt einer guten Stimmung ist.
Zudem fördert Bewegung auch die Neurogenese, die Bildung neuer Nervenzellen. Weitere Mechanismen, die zur verbesserten Stimmung und Funktion beitragen, sind das Ausschütten von Endorphinen.
Krebs und Immunsystem
Ein regelmässiges körperliches Training stärkt auch das Immunsystem. Dies kann an einem nach dem Training auftretenden Verbesserung vieler einzelner Parameter des Immunsystems nachgewiesen werden.
Noch wichtiger scheint mir jedoch das verminderte Auftreten von Krebserkrankungen zu sein. Besonders deutlich ist dies bei Dickdarmkrebs (–25 %) und bei Brustkrebs (–12 %).
Es gibt auch Arbeiten, die auf ein vermindertes Auftreten von Krebs im Bereich von Prostata, Gebärmutter, Eierstöcken, Bauchspeicheldrüse und Lungen hinweisen. Wahrscheinlich steht bei Bewegung ein generell schützender Effekt aus. Das zur Erzielung eines nachweisbaren Effekts notwendige Bewegungsanpassung bezüglich Dauer und Intensität scheint aber je nach Erkrankung unterschiedlich zu sein. Als Wirkmechanismen werden direkte zelluläre Effekte im Zusammenhang mit der Tumorentstehung, das Immunsystem stimulierende und hormonelle Effekte (veränderte Ausschüttung von Geschlechts-, Wachstums- und anderen Hormonen), Stoffwechseleffekte und die Stimulierung einer besseren Abwehr gegen die schädliche Wirkung von freien Radikalen angesehen.
Körperliches Training schützt nicht nur vor dem Auftreten von bösartigen Erkrankungen, sondern beeinflusst auch deren Verlauf. Es verbessert die Ansprechrate der durchgeführten Therapien, vermindert das Auftreten von Rückfällen. Zusätzlich werden gefürchtete Krankheitssymptome oder Therapienebenwirkungen wie Muskelschwäche oder chronische Müdigkeit günstig beeinflusst. Wie die gesunde Ernährung stellt regelmässiges körperliches Training heute bei Krebserkrankungen eine wichtige unterstützende Behandlungsform dar und sollte von keinem Betroffenen vernachlässigt werden.
Risiken und Nebenwirkungen
Ich erinnere mich: Herr L. erlitt auf der Langlaufloipe einen tödlichen Herzinfarkt. Herr B. verstarb auf einer leichten Wanderung nach kurzem Unwohlsein. Kannte ich vielleicht auch Sie jemanden, der während einer körperlichen Aktivität verstorben ist? Gibt es nicht trotz all der erwähnten Vorteile auch erhebliche Nachteile?
Eine vor Jahren durchgeführte Umfrage des Deutschen Sportbundes ergab, dass im Mittel eines Jahres insgesamt 47 Mitglieder während der sportlichen Tätigkeit verstorben waren. Dies entspricht 0.0003 % der Gesamtbevölkerung.
Wesentlich gefährlicher war mit 81 Todesfällen die Hind- und Rückfahrt. Am gefährlichsten war aber mit 110 Todesfällen das Zuschauen.
Nichtstun kann gefährlich sein! Tatsächlich kann es während des Sports zu plötzlichen Herztodesfällen kommen. Bei jungen Menschen trifft dies Sportler sogar häufiger als Nicht-Sportler. Allerdings kommt es sehr selten vor und meistens wegen einer angeborenen, vorher nicht erkannten Herzerkrankung. Insgesamt besteht aber kein Zweifel: Männer und Frauen profitieren von zunehmender körperlicher Aktivität und Fitness.
Je 1000 kcal pro Woche verbrauchter Bewegungsenergie reduziert sich das relative Sterberisiko um 20 bis 35 %. Allerdings gilt es hier zu berücksichtigen, dass eine «Dosis-Wirkungs-Kurve» zunehmend flacher wird. Ab einem bestimmten Aktivitätsgrad (etwa 3500 kcal/Woche) ist kein zusätzlicher Gesundheitseffekt mehr zu erwarten.
Zusammenfassung und Empfehlungen
Körperliche Inaktivität ist eine Ursache vieler Krankheiten. Das «Universalheilmittel» regelmässige Bewegung trägt zur Verminderung des Krankheitsrisikos, zur Therapie vieler Erkrankungen, zur Verlängerung der Lebenserwartung, zum Erhalt der Selbstständigkeit im Alter und zum generellen Wohlbefinden bei.
Für Bewegung muss Spass machen! Nein, denn Bewegung ist Therapie. Therapie muss Spass machen.
Die Dozentin, die dies während einer medizinischen Fortbildung behauptete, forderte auf, es wie bei Medikamenten zu machen: «Täglich die entsprechende Dosis!» Niemand kommt auf die Idee, die ganze Wochendosis an bloss ein oder zwei Tagen zu schlucken.
Untrainierte Menschen sollten es zu Beginn langsam angehen. Der Nutzen wird stärker oder Regelmässigkeit bestimmt als von der Intensität. Wer mit sich mehr bewegen kann, ist zu schnell, wer sich gar nicht bewegt, ist zu langsam unterwegs.
Während akuten Erkrankungen, Fieber, aktiven Gelenksentzündungen oder wenn Bewegung die Schmerzen wesentlich verschlimmert, sollte pausiert werden.
Täglich ein flotter Spaziergang von einer halben Stunde (3 km) bringt bereits 50 %, eine ganze Stunde etwa 90 % des möglichen Nutzens. Für Inaktive wirkt sich jede körperliche Bewegung vorteilhaft aus. Regelmässig, am besten täglich durchgeführt, ist die Wirkung auf Lebensqualität und Lebensdauer noch ausgeprägter.
Bewegung belebt!
„Bewegung ist Leben – wer aufhört, sich zu bewegen, hört auf, lebendig zu sein.“