Essen geniessen - glücklich sein

 

Autor/in: Heidi Albisser (Lebensberaterin, Köchin)

Ausgabe: Leben und Gesundheit, Januar/2014 - Ernährung

Das geschmacksneutrale Mixgetränk

Warum ist in unserer modernen und leistungsstarken Welt das Essen immer noch so kostspielig und zeitraubend?
Das störte den 24-jährigen Software-Entwickler Rob Rhinehart so sehr, dass er sich auf die Suche nach einer besseren Möglichkeit machte, um Nahrung zu sich zu nehmen. Er vertiefte sich in Biologiebücher und forschte auf dem grossen Gebiet der Ernährungswissenschaft.

Schliesslich mixte er aus verschiedenen Pulvern einen Shake, in dem seiner Meinung nach alle notwendigen Nährstoffe, Mineralstoffe und Vitamine enthalten sein sollten. In einem 30-Tage-Experiment ernährte er sich ausschliesslich von seinem selbstgebrauten «Getränk». Er überprüfte seine Blutwerte und seinen Gesundheitszustand und hielt die Ergebnisse in einem Blog fest. Mit drei Portionen flüssiger Nahrung fühlte er sich vital und leistungsfähig. Dazu spare er viel Zeit, Strom und Wasserkosten, meinte der junge Amerikaner.

Ja, wo er Recht hat, hat er Recht. Diese komprimierte Nahrungsaufnahme lässt die mühsame Menüplanung, den lästigen Einkauf und die zeitaufwändige Arbeit in der Küche – vom Zubereiten der Speisen bis hin zum Abwasch – hinfällig werden. Das geschmacksneutrale Mixgetränk lässt sich sogar stehend einverleiben. So fällt auch das Tischdecken und Abräumen weg. Schneller geht es wohl kaum.

Mit dieser Effizienz können nicht einmal mehr die Fastfood-Angebote mithalten. Beim schnellen Essen bekommt man aber immerhin etwas zwischen die Zähne. Auch Geschmack ist da – mehr oder weniger, zwar überall gleich, doch dafür weiss man zuverlässig und in jeder Hinsicht, was einen erwartet.

Mehr als das Stillen der Grundbedürfnisse

Essen ist weit mehr als nur schnelle Nahrungsaufnahme. Essen und Trinken stillen grundsätzliche Hunger und Durstgefühle, aber auch das Verlangen nach Genuss und Lebensqualität. Doch es geht weit über die Stillung dieser Grundbedürfnisse hinaus, es ist Bedürfnisbefriedigung auf mehreren Ebenen.

Schon im Säuglingsalter wird die Nahrungsaufnahme auch mit Wärme, Zuwendung und Geborgenheit verbunden. Essen ist überdies ein soziales Ereignis, indem die Bedürfnisse von Gemeinschaft, Austausch und Zugehörigkeit gedeckt werden.

Und schliesslich ist Essen ein sinnliches Erlebnis, bei dem Geniessen eine wesentliche Rolle spielt. Das bedeutet, dass wir unsere Sinne ganzheitlich einsetzen und das Essen bewusst wahrnehmen. Beim Geniessen wird mindestens ein Sinnesorgan angesprochen. Eine positive Sinnesempfindung löst bei uns Wohlbehagen aus.

Und was sagt das Auge dazu?

Das Auge ist bekanntlich mit – und während des Essens prüfen die Augen den Zustand und die Qualität der verschiedenen Lebensmittel und entscheiden, ob es appetitlich oder unappetitlich ist. Die Optik ist für den Genuss des Essens wichtig. Ein geschmackvoll angerichtetes Essen ist ein visuelles Erlebnis und macht Appetit.

Mit ein wenig Fantasie werden Früchte und Gemüse zum Hit. Die äussere Erscheinung von Lebensmitteln darf also ruhig ein Augenschmaus sein. Mit farbenfrohem Geschirr, bunten Servietten und kreativem Anrichten kann man Mahlzeiten verschönern.

Beispielsweise können aus Bananen, Erdbeeren und Heidelbeeren lustige Gesichter auf Tellern entstehen, oder man arrangiert Karotten und Gurken zu Mustern. Kinder bedanken sich für fantasievoll angerichtetes Essen, indem sie es mit Freude verspeisen.

Mit ein wenig Fantasie werden Früchte und Gemüse zum Hit. Es braucht nicht viel Geschick, und aus einem Apfel entsteht im Nu ein Marienkäfer, eine Prinzessin oder eine Krone. Bananen und Karotten verwandeln sich in Krokodile, und aus einer Birne wird eine Maus oder ein Igel.

Ein geschmackvoll gedeckter Tisch lässt die Vorfreude auf ein feines Essen noch grösser werden. Dekoration muss nicht teuer sein, aber sie sorgt für gute Wirkung.

Kochen ist wie Malen oder Komponieren – man braucht nur das richtige Maß an Fantasie.

Unsere Nase – ein Wunderding

Das Wasser läuft uns bei einem schön angerichteten Teller im Munde zusammen – erst recht, wenn uns noch ein herrlicher Duft in die Nase steigt. Unser Geruchssinn ist wesentlich für die Geschmackserlebnisse zuständig. Die Nase kann bis zu 2000 Aromen wahrnehmen.

Im hinteren Bereich der Nase befinden sich die Rezeptoren, welche durch die verschiedenen Düfte der Nahrung gereizt werden. Diese Reize wirken direkt auf jenen Teil im Gehirn ein, in dem die Emotionen verarbeitet werden. Welch schöne Erinnerungen weckt es, wenn meine erste Mandarine nach vielen Monaten (Saisonpause) duftet. Die ätherischen Öle, welche in die Luft spritzen, verbreiten ein derart fruchtiges Aroma, dass ich augenblicklich in Erinnerungen schwelge, erfüllt mit Gemütlichkeit und herzlicher Gemeinschaft mit der Familie.

Während ich die einzelnen Spalten genüsslich esse, freue ich mich über dieses herrliche Aroma und bin glücklich.

Gerüche wahrnehmen, erkennen und benennen kann geübt und weiterentwickelt werden. Wie wäre es, wenn Sie an Nahrungsmitteln, die Sie in Ihrer Küche verarbeiten, zuerst riechen würden? Wie viele Düfte liessen sich da neu erkunden!

Gewürze und Kräuter spielen in der Küche eine grosse Rolle. Frische Kräuter mit ihren vollen Aromen sind das ganze Jahr erhältlich. Sie dienen nicht nur der Dekoration, sondern unterstützen und ergänzen die Aromen der einzelnen Nahrungsmittel. In optimaler Dosierung wird mit ihnen ein Gericht zum Genuss. Mit Gewürzen zu experimentieren und neue Kombinationen zu wagen, macht Spass und Freude.

Was in der Nase beginnt, regt auch im Mund einiges an

Dank der 2000 bis 4000 Geschmacksknospen, die sich auf der Zunge befinden, nehmen wir die fünf verschiedenen Geschmacksrichtungen süss, sauer, bitter, salzig und umami (herzhaft, würzig) wahr.

Beim Schmecken spielt nicht nur die Geschmackssinn eine Rolle, sondern auch der Geruchssinn. Es ist das Zusammenspiel der Sinne, das uns Geschmackserlebnisse gewährt.

«Auf der Zunge zergehen lassen» sollten wir nicht nur als eine häufige Redewendung betrachten, sondern bei vielen Lebensmitteln und zubereiteten Gerichten bewusst anwenden. Kaum ein Bissen ist den Mund gelangt, verschwindet er nach zwei- oder dreimaligem Kauen in der Speiseröhre.

Welche Geschmackskomponenten verschlungen werden, ohne wahrgenommen zu werden, können wir beim besten Willen im Nachhinein nicht mehr sagen. Längeres Kauen und gutes Einspeicheln der Nahrung unterstützen die Verdauung und schenken uns die Möglichkeit, den Geschmack bewusst wahrzunehmen. Ein Stück Brot verändert seinen Geschmack, wenn es lange genug gekaut worden ist. Wissen Sie, wie es danach schmeckt? Probieren Sie es aus!

Tasten Sie sich vor …

Auch der Tastsinn wird beim Essen beansprucht und angeregt. Mit der Zunge spüren wir, ob ein Produkt trocken, cremig, hart oder weich, heiss oder kalt ist. Besonders hilfreich ist der Tastsinn bei der Auswahl von Lebensmitteln. Mit den Fingern erkennen wir zum Beispiel die Qualität einer Tomate oder den Reifegrad eines Avocados.

Auch beim Kneten von Teig verbindet sich der Tastsinn mit dem Gefühl. Je länger wir kneten, umso geschmeidiger wird der Teig. Dieses taktile Erlebnis ist fabelhaft. Ein Gedanke an das Endprodukt – und schon zaubert der Gedanke ein Lächeln auf unser Gesicht.

Als ausgebildete Köchin finde ich, dass nicht nur das Essen glücklich macht, sondern auch die Zubereitung selbst.

Klänge verraten einiges

Die auditive Wahrnehmung ist beim Essen und Trinken ebenfalls sehr bedeutsam. Das Gehör gibt uns Auskunft über die Qualität von frischen Lebensmitteln. Sind der Salat und die Karotten knackig, dann sind sie frisch. Tönt das Brötchen beim Brechen knusprig, wissen wir, es kommt direkt aus dem Ofen.

Beim Öffnen einer Flasche Mineralwasser sagt uns das Zischen, dass hier genügend Kohlensäure vorhanden ist. Mit dem Ohr nehmen wir verschiedene Geräusche aus der Küche wahr, wie das Klappern von Töpfen und Geschirr und das Schneiden, Raffeln oder Reiben von Lebensmitteln.

Und das Zischen aus der Pfanne lässt bereits Gutes erahnen.

Frisch und kreativ zubereitetes Essen benötigt etwas Zeit. Dafür werden wir aber mit einer grossen Palette von Sinneseindrücken und Empfindungen beschenkt. Essen ist weit mehr als nur Nahrungsaufnahme. Fastfood geht schneller, aber dafür ist es nur fast «Food».

Ruhig und genussvoll essen – oder in Gesellschaft – vermittelt uns ein positives Gefühl. Es tut der Seele gut, stimmt uns zufrieden und macht uns glücklich.

«Einen guten Appetit!» sage ich an dieser Stelle. Geniessen Sie Ihr Essen!

Essen ist ein Bedürfnis, Genießen eine Kunst.

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Ernährungsbedingte Krankheiten – warum falsches Essen krank macht

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