Von der Freiheit, sich selbst zu sein
Autor/in: Daniel Zwicker, M.A. (Psychotherapeut ASP und Theologe, mit eigener Praxis)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, Juli/2013 - Integrität
Durch Selbstbewusstsein zu persönlicher Integrität
Kaum am Urlaubsort angekommen, wurde ich ins Spital gebracht, weil ich mir mit einem scharfen Messer in die Sehne meines Zeigefingers geschnitten hatte. So landete ich kurz darauf auf dem Operationstisch, der Arm betäubt und etwas benommen. Nach etwa 30 Minuten war wieder alles vernäht. Die Ärzte legten den Arm zurück auf meine Brust. Da erschrak ich.
Völlig verunsichert und verwirrt setzte ich mich auf, schaute um mich, suchte nach Orientierung. Was war geschehen? Ich hatte das Gefühl, dieser Arm könne unmöglich der meine sein, weil er noch immer ausgestreckt zur Seite gelegt sein sollte. Ich schaute erneut um mich, um mir einen Überblick über die – mir – verworrene Situation zu verschaffen. Die Ärzte bestätigten mir jedoch mit absoluter Sicherheit, dass dieser Arm tatsächlich zu meiner Schulter führte. Da erinnerte ich mich an eine Vorlesung über Neuropsychologie und beruhigte mich wieder. Der Professor hatte erklärt, dass die Nerven des Gehirns zurückmelden, ob eine gewollte Bewegung auch wirklich so ausgeführt wurde wie geplant. Die betäubten Nerven jedoch gaben die Information nicht zurück ins Hirn. Somit ging das Gehirn davon aus, der Arm liege immer noch auf dem OP-Tisch. Es ist sehr irritierend, wenn mein Selbstbild, hier also meine Vorstellung über die Position meines ausgestreckten Armes, mit dem wahren Selbstbild, hier mit dem auf den Bauch zurückgelegten Arm, nicht übereinstimmt.
Die Konfrontation mit der Realität sorgte auf dem Operationstisch für tiefgehende Verwirrung – jedoch mit der Chance, den zurückgelegten Arm über die Augen wieder in mein Selbst am zutreffenden Ort zu integrieren.
Selbstbewusstsein als eine der wichtigsten Hauptaufgaben unseres Gehirns
Um eine möglichst genaue Vorstellung von uns zu haben, kann die gesamte Grosshirnrinde eingeteilt werden in Bereiche, in denen eine «Ich»-Vorstellung aufgebaut wird, z. B. das Körper-Ich, das Verortungs-Ich (Ich befinde mich in diesem Ort), das Handlungsplanungs-Ich (ich tue gerade dies und das mit diesem Ziel), das Ich als Subjekt von Emotionen und Gedanken, das autobiografische Ich, das ethisch-moralische Ich, das soziale Ich und viele andere.
In psychologischen Bereichen wie Emotionen, Gedanken und sozialen Beziehungen wird der Aufbau eines Ichbewusstseins sehr komplex und kann leicht zu Missverständnissen, Konflikten und kleineren bis grösseren Verwundungen zwischen Selbstbild und wahrem Selbst führen. Ein kleines Beispiel aus meiner Praxis:
Maria* wünscht, dass ihr Ehemann Rolf* sie in eine Therapiestunde begleitet. Am Wochenende sagt er ihr zu. Erst am nächsten Morgen habe er bemerkt, dass er einfach zu müde ist und dringend Zeit zum Ausruhen braucht. Maria meint, er habe doch schon zugesagt; sie könne sich einfach auf ihn verlassen. Rolf getraut sich nicht weiter zu insistieren, hat Angst «Nein» zu sagen, gibt nach und kommt mit ins Therapiespräch. Dort drückt er seine Frustration aus, seine Frau übe viel Druck auf ihn aus und er könne sich an seinem freien Tag nicht mehr erholen.
Das soziale Ich dieses Mannes sieht sich so, dass er seine Liebe für seine Frau durch Hilfsbereitschaft zeigt. So stellt es für ihn einen sehr hohen Wert dar, auf ihre Bedürfnisse und Wünsche einzugehen. Wenn er also «Nein» sagt, plagen ihn Schuldgefühle und er zweifelt seine Liebesfähigkeit an. Er sagt sich: «Die Liebe zu meiner Frau zeigt sich darin, dass ich hilfsbereit bin und ihre Bedürfnisse einbeziehe.»
Dabei übergeht sein Selbstbild die Tatsache, dass er eigentlich zu müde ist und weder die psychische noch die körperliche Kraft zur Verfügung hat.
Also kommt er in die verzwickte Situation, dass er Maria helfen möchte, sich jedoch in der Therapiestunde seines Ärgers und seiner Frustrationen ihr gegenüber bewusst wird, diese nicht mehr zurückhalten kann und sich im Gespräch über Unbeweglichkeiten seiner Frau beklagt.
Sie gesteht ihm zu wenig Freizeit zu und würde ihn nicht respektieren. Selbstbild und reales Selbst fallen auseinander, weil ihm zu wenig bewusst ist, dass psychische und körperliche Bedürfnisse und Grenzen er hat. So kann er diese auch nicht zur rechten Zeit – bei der Anfrage seiner Frau – ausdrücken und sich abgrenzen.
Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Entscheidung, dass etwas anderes wichtiger ist.
Von verschwendeter oder blockierter psychischer Energie
Interessanterweise machte Rolf die Erfahrung, dass es sehr viel Energie beansprucht, sein Selbstbild aufrechtzuerhalten, das überhöht ist. Liebe braucht die Freiheit, «Nein» sagen zu dürfen. Er ist als liebender Ehemann nicht dazu da, alle Wünsche seiner Partnerin zu befriedigen. Die Freiheit, zu seinen Grenzen zu stehen, mochte er sich nicht so freimütig zugestehen.
Rolf war in seinen sozialen Beziehungen allgemein sehr hilfsbereit. Er erzählte mir einmal, er habe bei einer Arbeitsstelle die Probleme der anderen ständig auf sich genommen und für sie gelöst, bis er völlig erschöpft kurz vor einem Burnout stand. Erst dann gab er sich die Erlaubnis, sich am Arbeitsplatz abzugrenzen und auch mal ohne Schuldgefühle «Nein» zu sagen. Ein überhöhtes Selbstbild aufrechtzuerhalten kostet deutlich mehr Energie, als zu seinem realen Selbst zu stehen.
Rolf unterschätzte die Wichtigkeit seiner eigenen grundlegenden Bedürfnisse. Das blockierte sehr viel Energie. Dabei hätte es ihn deutlich weniger Energie gekostet, sich gleich bei der Anfrage abzugrenzen und zu seiner Müdigkeit zu stehen. In einem gewissen Sinn können wir vereinfacht sagen: Hochstapel verbrauchen viel Energie und Tiefstapeln blockiert viel Energie – und beides fördert Depressionen.
Psychologen reden gerne von Selbstbewusstsein. Viele Menschen sehen in einer selbstbewussten Person jemanden, der immer gut drauf, von sich überzeugt, sehr begabt und selbstsicher ist und sich souverän auftritt. Richtigerweise meint Selbstbewusstsein jedoch, seine Stärken und Schwächen, also auch die eigenen Grenzen, genau zu kennen und sich so einzuschätzen und wahrzunehmen, dass Selbstbild und reales Selbst übereinstimmen. Selbstbewusstsein beinhaltet den Mut, zu den eigenen Grenzen wie auch den Stärken zu stehen und sie zu bejahen.
Vom Selbstbewusstsein zur persönlichen Integrität
Integrität kommt vom lateinischen Wort «integritas», das man mit «unbeschädigt» oder «unverdorben», «ganz» oder «heil» übersetzen kann. Unter körperlicher Integrität wird die körperliche Unversehrtheit verstanden. Eine Ohrfeige oder eine übergriffige Berührung bedeuten eine Verletzung der körperlichen Integrität.
Die Aussage über einzelne Menschen, sie seien integer, beschreibt Menschen als unbestechlich mit festen, tief verankerten Werten. Diese halten sie hoch und lassen sich nicht von ihnen abbringen. Sie bleiben sich treu und handeln konsequent – sie sind Menschen mit Rückgrat.
Persönliche Integrität hat zum Ziel, das persönliche Wertesystem mit dem eigenen Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings können zu wenig überdachte hohe Werte in ein Burnout treiben, weil jemand sich einem Wert verpflichtet fühlt, der ihn völlig überfordert. Wenn z. B. jemand in seinem Wertesystem festgelegt hat, mit allen Menschen Freund zu sein und alle zufriedenzustellen, kann ihn dies in ein Burnout treiben, weil er sich von überhöhten und unerreichbaren Anforderungen nicht abgrenzen kann.
Integrität beginnt deshalb damit, die eigenen Stärken und Wachstumsbereiche ehrlich einzuschätzen. Es ist möglich, inneres Erleben wie Gefühle und Gedanken zu ignorieren und zu unterdrücken – obwohl sie irgendwo in mir sind und vielleicht in einer ungewollten Situation sich plötzlich aktualisieren. Allerdings wird dann mein Selbstbild durch das reale Selbst infrage gestellt und meine Integrität bedroht. Dann kommt es zu Irritationen, wie ich es auf dem Operationstisch erlebt habe oder wie Rolf es im Therapiegespräch zum Ausdruck brachte.
Deshalb meint Integrität, ein Recht auf die persönliche Eigenart zu haben. Ich darf ich sein, ich darf so sein, wie ich bin – mit meinen Möglichkeiten und Grenzen. Je ehrlicher ich in diesem Sinn mir selbst gegenüber werde und mir die Erlaubnis gebe, ich zu sein, desto mehr wird mein Selbstbild mit meinem wahren Selbst übereinstimmen, desto integrer lebe ich und desto stabiler ist mein psychisches Gleichgewicht.
Persönliche Integrität kann als Treue zu sich selbst beschrieben werden. Weil ich mich gut kenne und deshalb realistisch einschätze, werde ich vom Gegenüber als integer und zuverlässig wahrgenommen. Ich erlaube ihm ebenfalls, sich treu zu sein, weil ich ihn in seiner individuellen Persönlichkeit respektiere.
Es werden Menschen gesucht!
(Gedicht von Peter Fuchs-Ott)
Menschen, die gerade sind.
Krumme gibt es schon.
Menschen, die sich erbarmen.
Die wegschaun gibt es schon.
Menschen, die ums tägliche Brot bitten.
Die es sich täglich nehmen gibt es schon.
Menschen, die ihr Leben ins Spiel bringen.
Die mit dem Leben anderer spielen gibt es schon.
Menschen, die aufstehen gegen Gewalt.
Die auf Gewalt stehen gibt es schon.
Menschen, die einander aufrichten.
Die einander richten gibt es schon.
Menschen, die den Mut haben zu dienen.
Herren gibt es schon.
Menschen, die für den Frieden leben.
Die für Kriege sterben gibt es schon.
Menschen, die neu anfangen.
Die fertig sind gibt es schon.
Gesucht Menschen, die Menschen werden wollen.
„Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“