Ehrlich. Echt. Einfach ich.
Autor/in: Günther Maurer (Gesundheitsberater, Führungskraft)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, Juli/2013 - Integrität
Kinder haben die wunderbare Fähigkeit, ihrem Gegenüber erfrischend ehrlich, ungekünstelt und authentisch zu begegnen.
Ihre Fragen, Blicke, Gefühle und Ausdrucksweisen sind eindeutig. Wissbegierig, mit offenem Sinn Neues kennenzulernen und es problemlos in den Alltag zu integrieren ist für sie mehr Spiel als Aufgabe. In anziehender Weise «leben» Kinder Integrität ursprünglich und natürlich, wogegen wir als Erwachsene zunehmend in der Gefahr stehen, diese Authentizität zu verlieren. Wir passen unser Verhalten immer öfter den Erwartungen anderer und/oder der Gesellschaft an und «verlieren» damit unsere Selbstbestimmung und Persönlichkeit.
Um zu überleben, automatisieren wir den Alltag, die Familie, die Freunde und spüren gleichzeitig tief in uns drinnen eine unstillbare Sehnsucht nach Echtheit.
Integrität wird so zum Wunschtraum. Friedrich Hebbel¹ hat diese Situation mit wenigen Worten treffend formuliert:
«Ich bin’s, glaube, gross trauernd den, der ich sein könnte.»
Was meint «Integrität»?
Wer nach der Bedeutung des Begriffes sucht, wird den Aussagen «unbeschädigter oder unverdorbener Zustand», «Unbestechlichkeit», aber auch «Wiederherstellung, Ergänzung» ganz nah kommen. Allerdings ist es wichtiger, darauf zu achten, in welchem Zusammenhang dieses Wort verwendet wird. Ein Mensch, dessen Handlungen, Worte und Werte übereinstimmen, lebt ethische Integrität. Ansonsten bewahrheitet sich sehr schnell die Aussage:
«Das, was du tust, spricht so laut, dass ich nicht hören kann, was du sagst.»
Integrität ist sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Leben ein hohes Gut und ein entscheidender Faktor für das positive Gelingen eines ganzheitlichen Lebens. Im Alltag fördert sie gegenseitiges Vertrauen und in Beziehungen Tragfähigkeit. Sie wirkt sich im täglichen Miteinander wie ein Kompass aus, auf dessen Magnetnadel man sich zur Orientierung verlassen und ausrichten kann.
Wenn Integrität fehlt
«Wer andere schädigen möchte, um selbst besser dazustehen, beweist damit ebenfalls, dass in seinem eigenen Leben einiges verkehrt läuft.»
— Friedolin Stier, Theologe und Schriftsteller
Das Gegenteil einer integeren Persönlichkeit, die sich selber bleibt und das, was sie sagt, auch so meint, ist eine korrumpierbare Lebenshaltung. Wer von diesem Bazillus infiziert ist, handelt nach Prinzipien und inneren Werten, sondern agiert bei Verlockungen oder auch Einschüchterungen bestechlich, also moralisch unkorrekt. Täglich decken die modernen Massenmedien neue Skandale auf, die enthüllen, wie viele Persönlichkeiten ihre Integrität verloren oder freiwillig geopfert haben. Wer sich jetzt entspannt lächelnd zurücklehnt, weil bis dato kein spektakulärer Prozess seinen Namen und seinen Ruf ruiniert hat, findet sich vielleicht in den folgenden Sätzen des Theologen Fridolin Stier wieder:
«Es gibt eine den Menschen verkrüppelnde, seinem Selbst entfremdende Macht: Man ist ihr Name.
Man denkt so ...
Man spricht so ...
Man tut so ...
Man kleidet sich so ...
Man benimmt sich so ...
Man lebt so ...
Man ist so ...»
Wer ist Man? Oder ist zu fragen, was Man sei – ein Sammel-Ich? Ein personales Es?
Ich schreibe Man gross. Denn Man ist eine Grossmacht. Überall krieg ich’s mit Man zu tun, alle Tage macht Man mir zu schaffen. Man ist in mir, Man ist um mich herum; ich lebe in Man. Ich erschrak, als ich eines Tages entdeckte, dass ich bin, wie Man ist. Die Augen sind mir aufgegangen. Ich weiss seitdem, was mit mir los ist: Man hält mich gefangen, Man ist mein Kerker. Ich hasse Man! ... Man arbeitet leise, Menschen formend nach seinem Bild, nicht prahlend wie Prometheus. Aber Mans Werke sind Pfusch. Man-Menschen laufen mit Buckeln herum, ihre Augen sind blöd, ihre Ohren doof ... Ich weiss nur, dass Man über die kleine Macht hatte ...»
Wer diese Aussagen überdenkt, wird zustimmen, dass «Man» die persönliche Integrität jeden Tag aufs Neue frontal angreift. Nur wer sich dessen bewusst ist, gestaltet sein Leben ganzheitlich, sodass er nicht so leicht in irgendeinem Bereich «verborgen» wird.
Wie kann Integrität erreicht werden?
Emil Erich Kästner (dt. Schriftsteller, der vor allem wegen seiner humorvollen, scharfsinnigen Kinderbücher und seiner humoristischen bis zeitkritischen Gedichte bekannt geworden ist) beantwortet diese Fragestellung mit der ihm unmissverständlichen Deutlichkeit:
«Sich der Kindheit wahrhaft erinnern, das heisst: plötzlich und ohne langes Überlegen wieder wissen, was gut und falsch, was gut und böse ist.»
— Erich Kästner
Kästner blieb zeitlebens ein Fürsprecher der kindlichen Arglosigkeit und hat den Scheinheiligen mit folgenden Beispielen treffend charakterisiert:
«Früchtchen seid ihr, und Sparbierobst müsst ihr werden!»
Aufgeweckt war ihr bis zuletzt, denn einige erkennen und mahnen noch an, bevor Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation ... Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut ... Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.»
Nicht jeder wird diesen Aussagen uneingeschränkt zustimmen, doch es finden sich darin viele Körnchen Wahrheit. Kinder leben mit allen Sinnen, neugierig und aufgeschlossen. Sie jauchzen vor Lebenslust und weinen, wenn ihnen danach zumute ist.
Wer so tut, als wäre er perfekt, verliert die Fähigkeit, echt zu sein.
Missverständnisse ausräumen
Oft wird Integrität mit Fehlerlosigkeit und Vollkommenheit verwechselt. Ein wirklich integrer Mensch steht jedoch durchaus zu seinen Defiziten und seinem Versagen. Er übernimmt Verantwortung hierfür und setzt sich ohne Verkrampfung und Heuchelei dafür ein, seine Fehler nach Möglichkeit nicht noch einmal zu wiederholen. Einsicht und Vergebung – auch Selbstvergebung – zeichnen ihn aus. Integrität beinhaltet also auch, dass wir persönliche Unzulänglichkeiten und Versagen nicht leugnen, sondern sie als Teil unserer Persönlichkeit begreifen. Wer sich eingesteht, dass Veränderungen im Denken und Tun anstrengend sind, praktiziert, ist auf gutem Weg. Er integriert, was er als richtig erkannt hat und wächst damit in seiner Persönlichkeit.
Wahrlich integer
Integrität ist das Herzstück guter Beziehungen, die Grundlage eines verantwortlichen ganzheitlichen Lebens, Voraussetzung für vorbildliches Wirken. Integrere Leute stellen sich nicht besser dar, als sie sind, halten Versprechen selbst dann, wenn es ihnen viel abverlangt, nehmen andere Menschen nicht aus und lassen sich weder «kaufen» noch «verkaufen» – auch wenn die Verlockung dazu gross ist.
Wer nach Integrität strebt, baut Vertrauen auf und schafft die Grundlage für ein gesundes Miteinander.
«Für verlorenes Vertrauen gibt es kein Fundbüro.»
— Ernst Ferstl, österreichischer Lehrer und Schriftsteller
Wer sich durch Übereinstimmung von Leben und Selbstbild in den Spiegel und anderen in die Augen schauen kann, braucht weder «Masken» noch die oft zitierte Ausrede «alle tun es!»
Es ist eine Binsenweisheit, dass Ursachen Wirkungen haben, und wem Integrität wichtig ist, der muss im Kleinen beginnen, die Weichen dafür zu stellen. Ein bekanntes Sprichwort drückt es so deutlich aus:
Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.
In seinem Buch «Integrität» vertritt Stephen Carter die Meinung, dass Integrität «die erste unter den Tugenden ist, weil … sie in gewisser Weise alle anderen voraussetzt. Alles, was wir im Allgemeinen denken, spielt eine sehr geringe Rolle, wenn wir nicht von Grund auf integer sind und den Mut und die Bereitschaft aufbringen, zu unseren Überzeugungen zu stehen, diese auszudrücken und danach zu handeln, was wichtig ist.»
So manche fähige Menschen werden aufgrund ihrer Papiere, Zeugnisse und Fachkenntnisse angestellt, aber wegen mangelnder Integrität gefeuert. Integrität ist eine Währung, die auf der ganzen Welt, ganz unabhängig von Sprache, Hautfarbe, Kontinent, bekannt, geschätzt und hoch bewertet wird. Wer diese Einsicht lebt und pflegt, wird immer mehr mit Weitsicht und Zuversicht beschenkt – selbst wenn der Alltag sich grau in grau zeigt. Es lohnt sich: Echt. Ehrlich. Einfach ich zu sein.
„Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, mitten im Leben seinen Nachruf zu korrigieren und einen neuen zu schreiben.“
Der schwedische Chemiker Alfred Nobel war durch die Erfindung des Dynamits zum Millionär geworden. Als sein älterer Bruder im Jahr 1888 in Nizza verstarb, verfasste eine französische Zeitung die Nachricht fälschlich und veröffentlichte einen Nachruf auf Alfred Nobel, in welchem er als «Dynamit-König» oder «Händler des Todes» bezeichnet wurde, der sein Vermögen mit der Erfindung von Mitteln, um Menschen zu verstümmeln und zu töten, gemacht hatte. Das erschütterte den Erfinder des Dynamits, der Sprenggelatine, des Zünders und der Zündkapsel. Er änderte seinen letzten Willen. Sein Vermögen sollte der Einrichtung eines Preises dienen, der sich an Menschen richtet, die mit ihrem Leben auf alle Zeit mit der Ehrung des Besten im menschlichen Bemühen in Verbindung gebracht werden. Die Nobelpreise sollten Personen erhalten, die Herausragendes für die Förderung von Frieden, Literatur und Wissenschaften geleistet hatten.
„Sei du selbst – alle anderen sind schon vergeben.“