Wie es gelingt, ein staunender, glücklicher Mensch zu werden
Autor/in: Titus Müller (Schriftsteller, Moderator)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, Juni/2013 - Optimismus
Wir wollen gern glücklich sein. In der Badewanne liegen und dem Schaum zuhören, der sich Blase für Blase auflöst, und ihn uns mit sanften Bewegungen über die Brust schwappen lassen. Ich liebe es, im Bad Wellen zu machen. Sie auch?
Wir wollen geliebt werden. Auch für unsere gute Laune. «Keiner will nachts die Lippen küssen, die den ganzen Tag nur gemeckert haben», habe ich mal gelesen.
Warum ist es oft so schwer, glücklich zu sein? Liegt es an der Lebenssituation, in der wir gerade stecken? Können wir überhaupt beeinflussen, ob wir die Welt gerade rosarot oder grauin-grau sehen?
Die University of California untersuchte zwei Gruppen von Menschen: solche, die in der Lotterie gewonnen hatten, und solche, die durch einen Unfall gelähmt worden waren. Ziel war es herauszufinden, ob ein Lottogewinn glücklich und ein schwerer Unfall dauerhaft unglücklich macht. Das Ergebnis verblüfft: Zwar waren kurz nach dem Ereignis die Lottogewinner glücklicher und die Unfallopfer unglücklicher, bald aber kehrten die Menschen zum gleichen Maß an Zufriedenheit zurück, das sie zuvor empfunden hatten.
Dr. H. Roy Kaplan, ein amerikanischer Wissenschaftler, der sich mit Lottogewinnern befasst, erklärt diesen Effekt: «Man kann Menschen über Nacht von einem ökonomischen Status zu einem anderen katapultieren, aber die Überzeugungen und Erfahrungen, die sie während ihrer Lebenszeit gesammelt haben, ändern sich nicht so schnell.»
Ein anonymer Gewinner schreibt im Internet: «Glücklich zu sein, das kommt von innen. Ich habe eine Menge Geld im Lotto gewonnen. Dadurch geht es mir finanziell sehr gut. Mein Gefühl von Glücklichsein hat sich aber nicht verändert.»
Umgekehrt gelingt es selbst schwer geschlagenen Menschen, ihre innere Zufriedenheit wiederzuerlangen, so wie sie vor dem Unglück mit den kleinen Widrigkeiten des Lebens zurechtgekommen sind.
Ich kann das alles nicht beurteilen. Weder bin ich über Nacht reich geworden, noch habe ich bei einem Unfall das Augenlicht verloren oder die Fähigkeit, meine Beine zu bewegen. Dass unser Glücksempfinden also auf die Dauer nicht von solchen äußeren Ereignissen abhängen muss, glaube ich, denn ich erlebe es im Kleinen jeden Tag.
Die Grundstimmung im Leben
Wahre Philosophie beginnt mit dem Staunen, sagte Aristoteles. Unsere postmoderne Philosophie aber baut auf dem Zweifel auf. Wir gehen zunächst einmal negativ an die Dinge ran. Das gibt dem ganzen Leben die Grundstimmung. Den Werbebotschaften dürfen wir nicht trauen, Verkäufern nicht, Telefonanrufern genauso wenig. Datenkraken belauern uns, die Medien manipulieren uns, Trickdiebe nutzen unser Mitleid aus. Kein Wunder, dass wir da zu Skeptikern werden.
Ich halte den Ansatz von Aristoteles für gesünder. Das Staunen ist ein besseres Fundament. Ich will kein abgebrühter Mensch sein, den nichts mehr berührt. Lieber falle ich von Zeit zu Zeit auf einen Gauner herein, als mir einen Panzer zuzulegen, der mich abstumpfen lässt. Lieber trete ich mal auf eine Scherbe, als nie wieder barfuß zu gehen.
Ist für mich das Meer noch ein Meer?
Gerade ist mir eine Ameise übers Buch gelaufen (ich weiß nicht, wie die zu uns ins Haus gekommen ist), und ich konnte ihre emsigen Schritte hören. Obwohl auf dem Schreibtisch der Computer rauscht und draußen die Vögel singen, habe ich die Schritte der Ameise gehört, ihre winzigen Schrittchen. Ich bin davon wie verzaubert.
Im Alltag nehme ich die Ameisen überhaupt nicht wahr. Wie ein blinder Riese zertrete ich sie auf dem Weg, während ich die Einkaufstaschen trage.
Sie kümmern mich nicht.
Ist meine abgeklärte, gelangweilte Lebenshaltung gerechtfertigt? Ich sehe jeden Tag die Sonne. Längst aber erkenne ich in ihr nicht mehr den glühenden, furchtbaren Brandherd am Himmel, ich wundere mich nicht mehr über ihre Leuchtkraft und Gewalt. Heute müssten schon vier Sonnen aufgehen, um mich zu verblüffen, am besten blaue und grüne.
Als Kind habe ich die Macht der Sonne gekannt. Ich wusste, dass mich einmal mein Blick ihr standhalten kann. Ich lag im kühlen Gras und konnte spüren, wie die Sonne mir Bauch und Gesicht wärmte. Ich kannte ihre Unerbittlichkeit, wenn ich mit meiner Mutter mürrisch im hohen Gras gesaß und wir vor der Dunkelheit zu Hause sein mussten: Sie färbte sich rot, und Fingerbreit für Fingerbreit sank sie hinter den Horizont.
Ich kannte die Sonne damals besser, als ich sie heute kenne – heute, wo ich behaupte, sie auf Erwachsenenart zu verstehen.
Das Meer: Ist es mir noch wirklich ein Meer? Das Fell einer Katze: Spüre ich noch, wie weich es ist? Die Abgeklärtheit beraubt mich wichtiger Empfindungen, wichtiger Erkenntnisse. Ich verliere den Sinn für den Platz, an den ich gehöre.
Es gehört Mut dazu, mich zurückzunehmen, mich einzuordnen, und zu Hause zu sein. Aber ich wünsche mir diesen Mut aufzubringen. Ich mag nicht in der Sonne blind werden. Ich will wieder der Mensch sein, der ich war: ein staunender, glücklicher Mensch.
Es sind auch die kleinen Dinge im Leben, die uns helfen, glücklicher zu werden.
Eine Glasmurmel
Ich habe vor meinem Haus eine Glasmurmel gefunden. Ein Kind muss sie dort verloren haben. Sie ist schwer und rollt gut von der Rechten in die Linke. Was mag eine solche Murmel wert sein? Ein paar Cent vielleicht. Für mich ist sie ein Schatz. Wenn ich ihre glatte Murmelhaut fühle, ihr grünes, geschwungenes Glasinneres ins Licht halte, dann schlägt mein Herz höher. Wir haben diese Murmeln geliebt als Kinder! Ihr wirklicher Wert war für uns nicht von Bedeutung, sie waren glatt und rund und ein herrliches Spielzeug – das allein zählte.
Ich möchte wieder am Wegrand einen Stein aufheben, weil er mir gefällt, und ihn mir neben das Bett legen, damit ich ihn vor dem Einschlafen noch mal in die Hand nehmen kann (Steine sind schön). Ich möchte kleine Schätze entdecken, ohne ihren Wert nach dem Preis zu beurteilen. Die Welt ist voll davon!
Weil ich an Gott glaube, kann ich viele Schönheiten der Erde mit Dankgefühl erleben. Ich weiss, wer sie erfunden und geschaffen hat. So, wie es eine gute Körperhaltung gibt – nicht der Kopfstand, nicht die Liegestützhaltung, sondern aufrechtes Stehen – so gibt es auch eine Lebenshaltung, die uns wohltuendes Dankbares Annehmen.
Ich habe mich im Leben über viele Dinge gefreut. Diese Dankbarkeit spielt sich im Kleinen ab. Sie ist eine Sache von Minuten, nicht von Monaten. Ich kann nicht ein halbes Jahr lang dauerhaft glücklich sein. Aber ich kann jetzt glücklich sein. Die Gründe dafür zu erkennen, ist eine Lebenskunst, die wir leicht verlernen. Eine Vogelfeder, bunt, Schneckenhäuser, Kinderlachen, Wind in den Baumwipfeln, ein Spaziergang am Abend – oft sind die schönsten Alltagswunder Kleinigkeiten, die ich leicht übersehe.
Bienen zu retten
Um zu trinken, fliegen die Bienen unseres Nachbarn an das Teichufer. Manchmal fällt eine beim Trinken ins Wasser. Am Nachmittag habe ich eine Biene aus dem Teich gefischt, die offenbar schon eine Weile darin herumgepaddelt war. Sie sass anschliessend auf einem Stein und putzte sich, auch die Zunge streckte sie lang aus und wischte sie mit den Beinen ab, als wollte sie den Geschmack des Teichwassers loswerden. Ich beobachtete das pelzige Tierchen und war glücklich.
Das ist, glaube ich, meine Aufgabe: Bienen aus dem Wasser zu retten. Bäume zu giessen. Einen ermutigten Menschen Freude zu machen. Ich darf nicht verlernen, die Welt zu lieben.
Ich will das Leben feiern und geniessen, will seine Geheimnisse erforschen und es hochachten. Geschmack, Duft und Schönheit sollen mich belehren. Tiere und Pflanzen faszinierend für mich sein, und Menschen das Kostbarste.
Es stimmt, unsere Welt ist voll von Krieg, Neid und Schmerzen. Aber das Gegengift sind nicht Pessimismus und zynisches Beobachten. Das Gegengift ist, zu helfen, und sich und die anderen an das Gute zu erinnern. Deshalb will ich in den verborgenen Winkeln danach suchen.
So oft fühle ich meine Zeit mit Ablenkungen, weil ich das Ticken der inneren Uhr nicht mehr ertrage. Dabei sehe ich mich danach, etwas Schlichtes lieben zu können. Ich will mein Herz öffnen für einen Käfer, ein Kinderbild, einen Knopf, eine Feder. Kleines, Schwaches lieben, Schönes und Herrliches, die Bäume, den Wind, der über das Feld fährt, die Sterne. Ich brauche den ganzen Krempel nicht, den mir die Werbung anpreist. Um glücklich zu sein, brauche ich die Fähigkeit zu staunen und eine Liebe für das Verletzliche. So erkenne ich, welche Spuren Gott auf der Erde hinterlassen hat, und kann seine Nähe wahrnehmen wie eine leise Melodie.
Erst wenn ich das Schwache, Hilfsbedürftige liebe, und das wunderbar Geschaffene, verstehe ich, wie Gott mich ansieht.
„Ich will kein abgebrühter Mensch sein, den nichts mehr berührt.“