Leben gestalten, Freiheiten nutzen
Autor/in: Sylvia Renz (Schriftstellerin)
Ausgabe: Leben und Gesundheit, Mai/2013 - Prioritäten
Nick Vujicic wurde am 4. Dezember 1982 in Australien geboren. Die Eltern waren schockiert, denn ihrem Sohn fehlten Arme und Beine. Nur am Oberschenkelansatz auf der linken Seite hatte er ein kleines Füßchen mit zwei Zehen. Ansonsten war Nick aber vollkommen gesund und so beschlossen die Eltern, alles für ihren Sohn zu tun, damit er ein möglichst normales Leben führen könne.
Das war aber extrem schwer, denn durch seine Behinderung wurde er ständig ausgegrenzt. «Ich weinte mich in den Schlaf und träumte, dass meine Arme und Beine am nächsten Morgen plötzlich da wären», berichtete Nick im Rückblick. Mit zehn Jahren war er so depressiv, dass er sich in der Badewanne ertränken wollte. Nur die Liebe zu seinen Eltern hielt ihn am Leben. Lange Zeit sah er keinen Sinn in seinem Leben und hatte keine Perspektive.
Als Nick 13 war, besuchte ein blinder Vortragsredner seine Schule. Alle Kinder waren beeindruckt von diesem Mann, der trotz seiner Blindheit das Beste aus seinem Leben gemacht hatte. Dadurch erkannte Nick, dass seine Behinderung keine Strafe war, sondern eine Herausforderung. Das war der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben. Von nun an konzentrierte er sich auf das, was ihm fehlte und was er nicht konnte. Nick sah auf das, was er hatte und wofür er dankbar sein konnte.
Nick besass etwas sehr Wertvolles: liebevolle Eltern, die ihm Mut machten, Neues zu probieren. Er konnte sich mit seinen Stummelfüssen fortbewegen und bald lernte er, mit den beiden Zehen zu schreiben und einen Computer zu bedienen. Beim Schwimmen diente ihm der kleine Fuss als Propeller. Nick begann mit dem Fussball-Spielen und betratte schon bald in rasantem Tempo auf einem Skateboard über die Strassen. Er erlernte den Selbstvertrauen, denn er merkte, dass er viel mehr tun konnte, als er jemals gedacht hatte. Er liess sich nicht mehr von den Grenzen einschränken, die ihm seine Behinderung diktieren wollte. Er träumte von einem «life without limits», einem Leben ohne Einschränkungen. Und er merkte, dass er anderen Menschen helfen konnte, wenn er ihnen von der Liebe Gottes erzählte. Er bestärkte sie darin, ihre Träume zu realisieren.
Nick Vujicic besuchte das Gymnasium und machte Hochschulabschlüsse in Rechnungswesen und Finanzplanung. Aber am liebsten erzählt er anderen Menschen, wie er selbst Hoffnung und Lebenssinn gefunden hat. Heute lebt Nick in Kalifornien und arbeitet international als Motivationsredner. Im Februar 2012 heiratete er seine Verlobte Kanae Miyahara. Er reist in der ganzen Welt herum, spricht in Unternehmen, Schulen, Kirchen, ja selbst in Gefängnissen und macht den Zuhörern Mut.
Als ich Nicks Geschichte zum ersten Mal hörte, war ich bewegt von seinem Optimismus, seinem Humor und seiner Lebensfreude. Ich fragte mich, was ich an seiner Stelle getan hätte, wie ich gedacht und gefühlt hätte. Vielleicht hätte ich mich in den lauwarmen Pool des Selbstmitleids gestürzt oder wäre in dumpfer Verzweiflung versunken. Doch ich hätte mich an dem bitteren Gedanken: «Warum ich, warum gerade ich?» vergiftet. Bitterkeit lähmt und tötet.
Bitterkeit schickt uns auf ein dunkles Karussell, immer im Kreis herum, ohne Ausstieg, ohne Hoffnung. Doch wer Vergebung übt, wird nicht verpflichtet, diese krankenmachende «Reise» anzutreten. Nick sagt: «Jeder hat die Wahl: zwischen bitter oder besser – bitter oder besser. Wähle die Option besser und vergiss das Bittere.»
Besserem statt Verbittertem – wie sieht das praktisch aus?
„Selbstwert bedeutet nicht Stolz, sondern das Gefühl haben, dass sie ihr Leben aktiv gestalten können.“
Glücksforscher haben bei vielen Befragungen festgestellt, dass äussere Faktoren wie Geld, Herkunft und Gesundheit für den Grad der Zufriedenheit keine so grosse Rolle spielen. Am glücklichsten sind Menschen, die einen Sinn in ihrem Leben sehen und das Gefühl haben, dass sie ihr Leben aktiv gestalten können. Das Schlüsselwort heisst aktiv.
Selber gehen, statt sich gehen lassen
Unsere modernes Leben wird auf den ersten Blick sehr aktiv und wir glauben, vieles selbst zu bestimmen, doch wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir viele Bereiche, in denen wir die Rolle des Zuschauers oder höchstens noch des Knopf-Drückers übernommen haben.
Welche Lebenslügen haben sich in unser Denken eingeschlichen?
„Ich stosse auf fünf Irrtümer, die uns daran hindern, unser Leben selbst zu gestalten.“
1. «Alles muss leicht gehen!»
Ich erinnere mich noch an die Waschtage in meiner Kindheit. Damals wurde die Familienwäsche eine ganze Woche lang gesammelt. Vorabend haben wir die Wäsche sortiert, stark verschmutzte mit Gall- oder Kernseife eingerieben und in kaltem Wasser eingeweicht. Am Waschtag wurde mit Holz und Kohle im Ofen unter dem Waschbottich eingeheizt, bis die Lauge zu kochen begann. Sie hat mit einem grossen Holzlöffel die Wäsche immer wieder bewegt und umgerührt. Dann wurde mit klarem Wasser nachgespült und die Wäschestücke zum Auswalzen ausgerungen, dann ausgespannt und auf die Leine gehängt. Die kleineren Stücke von Taschentüchern musste ich auf einen kleinen Wäscheständer aufhängen, bis der letzte Fleck weggewaschen war. Ende des Waschtages waren meine Finger schrumpelig und gerötet, das lockert Stoff und beseitigt das Schmutz. Doch die saubere Wäsche duftet nach Sommerwind und Kernseife, sie lag ordentlich aufgetürmt in den Regalfächern und das war die Entschädigung für die Plackerei.
Heute stopfe ich mit zwei, drei Handgriffen den Inhalt der Wäschetonne in die Maschine, schütte etwas Waschpulver in entsprechende Fach, drücke einen Knopf und kann 1 bis 2 Stunden später die saubere Wäsche aufhängen oder in den Trockner legen. Das geht alles so leicht und mühelos und ich bin froh darüber. Aber ich verlerne durch all die praktischen Helfer im Haushalt, meine Muskeln zu betätigen und mir Mühe zu geben. Ich vergesse, wie viel Arbeit es macht, die Folgen meiner Unachtsamkeit zu beseitigen (z. B. Flecken, verursacht durch Kleckern).
Wir sind leichtsinnig und träge geworden. Wir unterschätzen die Folgen unserer Handlungsweise, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass wir kaputte Gegenstände einfach wegwerfen und neue kaufen können, statt sie mit Hirnschmalz und Muskelkraft wieder zu reparieren. Dadurch verlieren wir den realistischen Blick auf das eigene Handeln und die Zwischenursache und Wirkung. Gleichzeitig erleben wir keine Freude mehr an unserem Erfolg: «Das ist mir gut gelungen, das habe ich geschafft.»
2. «Alles muss schnell gehen!»
Die Natur lehrt uns, dass Wachstum Zeit braucht. Ein Weizenkorn wird in die Erde gelegt und «stirbt» dort, während gleichzeitig neues Leben entsteht, wenn ein grünes Blättchen aus der Erde treibt. Der Keimling wächst und entfaltet sich zu einem Halm, in den Monaten später die Weizenkörner in der Ähre heranreifen.
Diese langwierigen Prozesse widersprechen unserer Hau-Ruck-Mentalität, die sofort ein Ergebnis sehen will.
Wir sind ungeduldig geworden und wollen nicht wahrhaben, dass nachhaltiger Erfolg Ausdauer und ständigen Einsatz verlangt. Wenn es Mühe macht und lange dauern wird, dann fangen wir erst gar nicht an. Auf diese Weise verlieren wir den Zuwachs an mentaler und körperlicher Stärke, der durch Training erworben wird.
3. «Gutes passiert einfach.»
Die Theorie, dass sich das Leben auf unserem Planeten rein zufällig entwickelt hätte, hat im Denken des modernen Menschen verheerende Schäden angerichtet, denn diese Vorstellung widerspricht unserer Beobachtung. Oder haben Sie schon einmal erlebt, dass sich das chaotische Zimmer eines Teenagers ganz von allein aufgeräumt hätte? Niemals entwickelt sich ein unordentlicher Zustand zu einer höheren Ordnung. Niemals wird aus einem primitiven Lebenswesen eine höhere Daseinsform. Planung, Zeit und Mühe sind nötig, damit aus Unordnung eine Ordnung entsteht. Das ist uns in der Praxis völlig klar, und trotzdem denken viele, dass im Leben alles ganz von allein zum Besseren verändern, indem man nichts macht. Doch das eben nicht geschieht, liegt daran, dass wir Menschen Verantwortung tragen für die Welt, in der wir leben.
Alles braucht seine Zeit.
4. «Daran kann ich nichts ändern!»
Einerseits leben wir in einer Welt, die sich fast im Sekundentakt verändert. Geniale Erfinder setzen ihre Ideen um, kluge Geschäftsleute verankern sie blitzschnell. Wir können Nachrichten live empfangen und weitergeben. Andererseits fühlen sich viele hilflos wie Kinder, die in einem Kettenkarussell herumgewirbelt werden, ohne Hoffnung auf eine Pause, in der sie endlich aussteigen könnten. Mit Recht müssen wir uns eingestehen, dass wir als Bürger an der Weltpolitik und des globalen Handels kaum Einfluss haben. Es wäre sinnlos, sich dagegen aufzulehnen und als Eizelperson ein Windrad stoppen zu wollen. Und doch hat jeder Mensch in Westeuropa grosse Freiheiten. Diese Freiheiten sind durch die Spontanität, wie durch Arbeit und Pflichten, die soziale unrealistische Lebenseinstellung kritisch zu überdenken.
5. «Das Leben ist sinnlos und endet mit dem Tod.»
Dieses Konzept löscht alle Hoffnung und tötet jede Fantasie. Die logische Konsequenz einer solchen Einstellung ist der pure Egoismus, bei dem ich nur an den eigenen Vorteil denke und das Beste aus dem Hier und Jetzt herausholen möchte. Doch wir müssen nicht so denken!
Die Bibel berichtet von einem fürsorglichen und genialen Schöpfer, der mit uns Menschen eine persönliche Freundschaft eingehen möchte. Er bietet uns seinen Rat an, er will uns selbst leiten und stützen.
Aber er drängt sich nicht auf. Er möchte, dass wir bewusst in diese Freundschaft einwilligen. Er macht uns konkrete Angebote, die wir bewusst annehmen müssen, damit sie uns weiterhelfen.
Dann verstehen wir uns selbst als lebendige «Organe» in einem übergeordneten «Körper», die sich von Gott ihren speziellen Platz und ihre besondere Aufgabe zeigen lassen. Wir erleben echte Gemeinschaft. Wir merken, wie sich unsere Fähigkeiten und Talente weiter ausbilden. Wir haben Erfolge und sehen unser Scheitern als Sprungbrett zum nächsten Sieg. Unser Leben pulsiert von Zuversicht und Optimismus, wir werden fähig zu echter Liebe und wachsen über die eigenen Begrenzungen weit hinaus. Genau das hat Jesus uns versprochen: ein erfülltes Leben.
Und das kann schon heute beginnen!
A. Zeit:
Wir können selbst darüber entscheiden, wie wir unsere Zeit füllen.
B. Beruf:
Wir können aus mehreren Beschäftigungsangeboten oder Arbeitsplätzen auswählen.
C. Beziehungen:
Wir können Freunde suchen und darüber bestimmen, wie und mit wem wir unsere Freizeit verbringen.
D. Träume:
Wir können viele unserer Träume realisieren, wenn wir nur wollen und uns bewusst dafür einsetzen.
„Nicht was fehlt, zählt, sondern was ich habe – und was ich daraus mache.“