Kongruenz und warum Annahme so wichtig ist

Autor/in: Dr. Winfried Vogel (Redakteur, Psychosozialer Berater)

Ausgabe: Leben & Gesundheit, Mai/2019 - Integrität

 

Auf neudeutsch nennt man sie Influencer: Junge Leute, die im Netz mit selbstgedrehten Videoclips über sich und ihren Lifestyle erzählen und mitunter von Millionen Followern gelikt und abonniert werden. Stefanie Giesinger ist 23 Jahre alt und mit ca. 3,7 Millionen Instagram-Fans ganz oben mit dabei.

Stefanie Giesinger
Nachdem sie 2014 die neunte Staffel von «Germany’s Next Topmodel» gewonnen hatte, avancierte sie zum Social-Media Star. Das Besondere an ihr ist, dass sie nicht nur Glamour verbreitet, sondern auch ein Foto von sich gepostet hat, wo sie mit nässender Narbe auf dem Bauch in einem Krankenhausbett liegt. Stefanie ist schwerkrank, ihre inneren Organe können sich von einem Moment zum anderen so verdrehen, dass unerträgliche Schmerzen die Folge sind und Operationen notwendig werden. Keiner weiß, wie lange sie damit leben kann. Auf Nachfrage sagte sie kürzlich: «Ehrlich gesagt war das für mich kein großes Ding. Ich wollte mich eben so zeigen, wie ich bin.»

Ich hatte Angst, als das kranke Mädchen abgestempelt zu werden. Heute bin ich froh, dass ich dennoch den Mut aufgebracht habe. Für viele Menschen sind Krankheiten ein Tabuthema. Das möchte ich ändern. Ein Vorbild sein.» Bei ihren Fans kommt das nicht nur gut an. Manche werfen ihr vor, ihre Narbe nur zur Schau zu stellen. Sie finden es wahnsinnig, solch ein Foto zu zeigen. Sie hält dagegen: «So ist das Leben. Sich nur aufgepeppt zu präsentieren, wäre der wahre Irrsinn.»

In der Netzwelt, in der sich eine erfolgreiche Influencerin bewegt, ist das ungewöhnlich und mutig. Denn dort geht es eigentlich nur darum, sich und die Produkte, die man anpreist, im besten Licht erscheinen zu lassen. Schwäche, Krankheit und Versagen haben da keinen Platz. Dabei ist genau das eine Sackgasse. Ehrlichkeit, Echtheit und Verletzlichkeit sind die Voraussetzung dafür, wirklich angenommen zu werden.

Grundbedürfnis Annahme
Die größte Sehnsucht in uns ist jene nach bedingungsloser Annahme durch mindestens einen anderen Menschen. Dieses Verlangen scheint ein Teilstück unserer DNA zu sein, es ist in uns hineingelegt. Wir wissen schon seit langem, dass bereits im frühesten Lebensstadium die liebevolle Annahme wenigstens einer Bezugsperson überlebensnotwendig ist. Und wir sind zeitlebens auf der Suche nach Menschen, die uns signalisieren, dass sie uns verstehen und annehmen, wie wir sind. Das Wort: «Ich verstehe dich» wirkt wie Balsam für unsere Seele, es ist wie ein Türöffner in unsere Inneres. Und dabei ist nicht entscheidend, dass der andere derselben Meinung ist wie ich, allein die ehrliche Bereitschaft, meine Gedanken und meine Gefühle nachzuvollziehen, reicht schon aus, um Glückshormone auszuschütten. Und wenn uns jemand signalisiert, verbal und nonverbal, dass er uns und das, was wir tun, gut findet, dann ist das genau die Anerkennung und Bestätigung, die wir uns so sehnlich wünschen. Wenn diese Annahme durch andere aber ausbleibt oder wir den Eindruck haben, dass wir mehr davon bekommen sollten, als tatsächlich der Fall ist, neigen wir Menschen dazu, uns genau das zu holen, was wir brauchen. Es ist nicht zufällig, dass gerade in einer Phase, in der durch Globalisierung und Digitalisierung analoge, also buchstäbliche, zwischenmenschliche Begegnungen abgenommen haben, die sozialen Medien diesen Mangel beheben wollen. Tragischerweise erfüllen sie nicht denselben Zweck wie echte Begegnungen, sondern vermitteln lediglich die Illusion der persönlichen Annahme.

Identität und Selbstdarstellung
Dies führt zu einer regelrechten Inflation an Selbstdarstellungen im Netz. Die Blaupause dafür stammt aus echten Beziehungen: Ich möchte gesehen, wahrgenommen werden. Und hoffentlich ist da jemand, der genauer hinschaut. Interessanterweise reden wir bereits von der sogenannten Selfie-Generation, weil gerade jüngere Menschen in den sozialen Medien die einmalige Chance erkennen, sich selbst in ein möglichst gutes Licht zu stellen. Seht doch her: Ich bin gut, ich sehe gut aus, ich habe Erfolg, bin kreativ, abenteuerlich, begehrenswert. Die Gefahr, dass die Sehnsucht, wahrgenommen zu werden, von skrupellosen Menschen schamlos ausgenutzt wird, vor allem bei Minderjährigen, ist nicht zu unterschätzen. Deshalb sind Eltern gut beraten, hier ein wachsames Auge auf die Netzakttivitäten ihrer heranwachsenden Kinder zu haben. Die Adoleszenz mit ihren stürmischen Entwicklungssprüngen stellt die drängende Frage nach der eigenen Identität. Häufig ist es der Wunsch, so oder so oder wie dieses oder jenes Idol zu sein, was zu einer Selbstdarstellung führt, die nicht dem eigenen Wesen entspricht und gewollt und künstlich erscheint. Am Ende sind Wunsch und Wirklichkeit, das innere Sein und die Projektion des Selbstbildes nicht kongruent, also nicht deckungsgleich, und driften im ungünstigsten Fall immer weiter auseinander. «Wer bin ich? Wer will ich sein?» sind die großen Fragen der pubertären Identitätsfindung, und der Spiegel spielt dabei eine wichtige Rolle. «Was sehe ich dort, wenn ich mich selbst betrachte? Was muss ich tun, damit mich die anderen in meinem Umfeld so sehen, wie ich gerne gesehen werden möchte?» Wenn man weiß, aus welchem elementaren Grundbedürfnis die Art und Weise der Selbstdarstellung gespeist wird, und warum gerade jungen Menschen das Bedürfnis so stark ist, Anerkennung und Zuneigung zu erfahren, dann kann man diese Dynamik besser verstehen – und auch die Gefahren, die damit einhergehen.

«Mir ist beides sehr bewusst, meine Macht und meine Verantwortung. Ich bin ein Vorbild für viele junge Mädchen.»
Stefanie Giesinger, 23, erfolgreiche Influencerin mit 3,7 Millionen Instagram-Fans

Wenn Annahme grundsätzlich gegeben ist, kann echtes Leben gelernt werden. Die Neigung zur Selbstdarstellung wird dadurch gemindert.

Der heutige Sozialcharakter
Wir dürfen bei all dem nicht vergessen, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen in den letzten 150 Jahren zu einer Art emotionaler Revolution geführt haben. Der bekannte Psychologe Peter Winterhoff-Spurk stellt fest, dass durch die wohlfahrtsstaatliche Modernisierung, welche die Menschen aus den direkten Sozialreformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie – entlassen und stattdessen in bürokratische Abhängigkeiten geführt hat, einen «kalten, selbstbezogenen Charakter ohne emotionale, moralische oder soziale Bindungen» geschaffen hat (Kalte Herzen, Klett-Cotta, 2005, 34). Er führt weiter aus, dass die moderne kapitalistische Gesellschaft in den Menschen «narzisstische Züge» hervorbringe. Der Narzisst ist in der Psychologie bereits hinreichend beschrieben worden. Besondere Merkmale sind Größenphantasien und Minderwertigkeitsgefühle, was den Narzissten übermäßig auf Bewunderung und Bestätigung durch andere angewiesen sein lässt. Das alles ist gepaart mit wenig Einfühlungsvermögen für den Mitmenschen. Es ist inzwischen von Forschern nachgewiesen worden, dass gerade der Umbruch der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft die Fähigkeit zur Gefühlsarbeit fördert und fordert. Deshalb benennt die Psychologie einen neuen Sozialcharakter, der ein guter Gefühlsarbeiter sein muss, einer, der seine Gefühle gut verkaufen kann: Er muss ein Schauspieler sein. In der römischen Antike gab es den Histrio, den Schauspieler, Tänzer oder Musiker. Und dies beschreibt die heutigen Selbstdarsteller, wie sie z. B. in den sozialen Netzen wiederfinden.

Authentisch leben lernen
Um historische Wesensmerkmale zu überwinden oder zumindest in einem vertretbaren Rahmen zu halten, muss die frühkindliche Erziehung besonders beachtet werden. «Kinder und Heranwachsende brauchen für ihre Entwicklung stabile Selbstbilder feste und verlässliche Bindungen. Unsicheres Bindungsverhalten in dieser Zeit erzeugt nicht nur Heimatlosigkeit, Bindungslosigkeit, innere Leere, Vereinsamung, Langeweile sowie das Fehlen einer persönlichen Identität. In dieser schwierigen Situation lernen die Kinder auch theatralische Inszenierungen als einen Ausweg kennen» (Winterhoff-Spurk, 41). Die Übereinstimmung von dem, was in der Seele passiert, und dem, was außen sichtbar wird, kann nur dadurch erreicht werden, dass Kinder in einer verlässlichen und dauerhaften Beziehung Vertrauen lernen, wenn sie sich angenommen fühlen. Kinder werden immer dann schauspielern, also ihr wahres Inneres samt Verhalten verstecken, wenn sie den Eindruck haben, dass Offenheit und Transparenz negative Konsequenzen haben. Im Klartext bedeutet das, dass Eltern und Erzieher vergebungsbereit sein müssen, wenn sich Kinder etwas zuschulden kommen lassen. Wenn Annahme grundsätzlich gegeben ist, kann echtes Leben gelernt werden. Die Neigung zur Selbstdarstellung wird dadurch gemindert.

Integrität und Charakterbildung
Wenn jemand eine sichtbare Übereinstimmung zwischen den persönlichen Wertsystem und dem eigenen Reden und Handeln offenbart, redet man von einer integren Person. Wer integer ist, lebt und handelt im Bewusstsein, dass sich persönliche Überzeugungen, Maßstäbe und Wertvorstellungen in seinem Verhalten ausdrücken. Man ist sich selber treu. Zu solcher Person wird niemand von heute auf morgen. Es geht um eine Charakterentwicklung. Der Neurobiologe Gerald Roth spricht dabei vom Ziel des gefestigten Charakters. Interessanterweise spricht auch die Bibel häufig von einem festen Herzen und davon, dass es ein Geschenk Gottes ist (Hebräer 13,9). Das bedeutet nicht nur, mit dem Leben grundsätzlich zurechtzukommen, sondern aauch in sich zu ruhen, eine Identität gefunden zu haben, die durch Annahme und Verletzlichkeit geprägt ist. Das Beispiel von Stefanie Giesinger zeigt, dass dies selbst bei Menschen, die mit Selbstdarstellung populär werden, ein tiefes Bedürfnis ist.

Gemeinsam ist allen die Erfahrung, dass unmittelbar geäußerte Wünsche nicht, dramatisch inszenierte hingegen immer befriedigt werden. Diese Erfahrung führt auf Dauer auch beim Kind zu stark situationsabhängiger Affektivität ohne Tiefgang. Es kann sich nicht selber lieben, also drängt es die anderen, dies zu tun.
— Peter Winterhoff-Spurk

Zurück
Zurück

Kränkungen entmachten –wie ein Heilungsprozess möglich wird

Weiter
Weiter

Durch Pornografie verletzte Integrität