Durch Pornografie verletzte Integrität
Autor/in: Dr. Dr. René Gehring (Schulleiter, Theologe, Pastor)
Ausgabe: Leben & Gesundheit, Mai/2019 - Integrität
Die strengste Prüfung
Wir leben in einer Zeit, in der es inzwischen Mode geworden ist, sich eine gewisse moralische «Flexibilität» vorzubehalten oder, noch verharmlosender ausgedrückt, «situationselastisch» zu sein. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die Verweigerung, sich ethisch wirklich festzulegen. Wer sich keine klaren Werte setzt, muss sich so schnell kein Versagen eingestehen – typisch «postmodern».
Die strengste Prüfung, ob wir wirklich aufrichtig und tatsächlich integer sind, erwartet uns nicht vonseiten des Staates oder der Gesellschaft, sondern innerhalb unserer engsten Beziehungen. Meinem Vorgesetzten in der Firma kann ich leicht vormachen, dass ich ein guter Mensch bin. Meine Nachbarn werden das vermutlich schon besser beurteilen können. Die eigene Familie aber kennt mich am besten, erlebt mich häufig von morgens bis abends und weiß damit sehr genau, ob ich zu dem stehe, was ich sage. Und doch kann es sein, dass ich selbst jenen, die mir am nächsten stehen und mir am meisten bedeuten, etwas vorgaukle.
Integrität in Beziehungen
Wer hat nicht schon erlebt, dass sich ein eng befreundetes Ehepaar plötzlich, aus vermeintlich heiterem Himmel heraus, scheiden lässt. Man war nah dran, kannte sich sehr gut, ist vielleicht sogar gemeinsam in den Urlaub gefahren – doch von heute auf morgen zieht einer der beiden aus und offenbart, dass es schon seit Jahren eine tiefe Kluft gab, die nun nicht mehr zu überbrücken sei.
Ein Integritätskonflikt findet sich in diesem Bereich enger, intimer Beziehungen oft: die sexuelle Untreue. In unserer Zeit ist es sehr leicht, untreu zu werden. Unzählige Dating-Portale, einige gezielt auf Ehebruch spezialisiert, bieten weitgehend anonyme Gelegenheiten für vermeintlich folgenlosen, unverbindlichen Sex. Außerdem kann eine ungewollte Schwangerschaft heutzutage leicht vermieden werden, und außereheliche Sexualität gilt nicht mehr per se als unmoralisch. Gesellschaftliche Achtung ist nur selten zu erwarten. Allerdings gehört schon viel Einsatz dazu, diesen Weg des Ehebruchs tatsächlich zu beschreiten. Für solche, die sich in einer glücklichen Partnerschaft befinden, ist das eher unwahrscheinlich. Ein anderes Integritätsproblem ist hingegen auch in gut funktionierenden Beziehungen nicht selten zu finden: Der Konsum von Pornografie, in der Regel im Geheimen, verborgen vor dem eigenen (Ehe-) Partner.
Pornografie-Fakten
Das Durchschnittsalter für den Erstkontakt mit pornografischem Material ist seit dem Jahr 2000 rapide gesunken. Mit dem Einzug des Hochgeschwindigkeits-Internets wurde der Zugang insbesondere für junge Menschen sehr erleichtert und die Anonymität beim Konsum gestärkt. So liegt das Alters des ersten Kontakts für Mädchen heute bei ca. 12 und für Jungen bei ca. 11 Jahren. Die größte Konsumentengruppe ist zwischen 12 und 17 Jahre alt. Obwohl dies den Anbietern von Internetpornografie gut bekannt ist und das Material eigentlich erst mit Erreichen der Volljährigkeit betrachtet werden darf, werden doch nahezu keinerlei Maßnahmen ergriffen, dies zu ändern. Eine einfache Abfrage, ob der Internetnutzer bereits volljährig ist, ist in der Regel die einzige Maßnahme. Ein Klick auf «Ja» oder «Enter» genügt, um die ganze verdorbene Welt der Pornografie zu nutzen. Eine wirkliche Hürde ist das für niemanden. Durch diesen meist sehr frühen Konsum im jugendlichen Alter kann sich leicht eine tief verwurzelte Gewohnheit herausbilden, die dann häufig auch später noch in einer festen Partnerschaft bestehen bleibt.
Aktuell ist es noch so, dass zwei Drittel der Besucher pornografischer Websites männlich sind. Allerdings ist hier beobachtbar, dass die Konsumentengruppe immer weiblicher wird. Die Produzenten haben Frauen als neue Zielgruppe entdeckt und richten sich immer stärker auf ihre Wünsche aus, produzieren verstärkt aus weiblicher Perspektive höherwertige, ästhetischere Pornografie.
Der Umsatz der Industrie für «Erwachseneninhalte» beläuft sich auf ca. 100 Milliarden US-Dollar jährlich. Heruntergerechnet bedeutet das, dass ca. 3.000 Dollar pro Sekunde für Pornografie ausgegeben werden. Ein Viertel aller Suchanfragen im Internet betrifft diesen Bereich. Im Schnitt alle 39 Minuten wird ein neues Pornovideo produziert – die unzähligen Amateurvideos, die auf entsprechende Plattformen hochgeladen werden, nicht mitgerechnet. Schätzungen zufolge enthalten 50 Prozent aller Websites pornografische Inhalte und knapp zwei Drittel aller Webseitenbesuche sind sexueller Natur.
Betrachtet man diese Ausmaße, wird schnell deutlich, dass das Thema Konsum nicht allein auf die Freizeit beschränkt sein kann. Tatsächlich ergaben neuere Untersuchungen, dass 20 % der Männer und immerhin 13 % aller Frauen auch an ihrem Arbeitsplatz Pornografie konsumieren. Häufig als kurze Ablenkung zwischendurch. Darauf verweisen auch die Nutzungsstatistiken, die von den großen Pornoplattformen selbst herausgegeben werden. Demzufolge finden 70 % der Besuche zwischen 9 und 17 Uhr statt, also während der Hauptarbeitszeit. Das passt auch zum Umstand, dass montags die meisten Besuche zu verzeichnen sind, die wenigsten sonntags. Unter den Monaten ist der Januar Spitzenreiter, August der Schlusslicht. Damit wird deutlich, dass Pornografie besonders häufig als Ablenkung vom Arbeitsstress konsumiert wird. Da dieses Material die Stimmung ähnlich schnell ändern kann, wie es Betäubungsmittel schaffen, sind auch kurze zeitliche Lücken in einem ansonsten hektischen Tag vielfach genügend Zeit, um diese Websites zu besuchen und den einen oder anderen Videoclip anzusehen. Während Pornografie auch in anderen Formen wie Fotos Kurzgeschichten, erotischen Romanen oder Comics Absatz findet, sind Videos die Nummer eins unter den medialen Zugangsformen. Das führte dazu, dass die früher so verbreiteten «Sexheftchen» heute nur noch in äußerst wenigen Zeitschriftenläden zu finden sind. Die meisten haben von Fotos auf Videos umgestellt, von gedrucktem Material auf digitales. Dank der weit verbreiteten DSL-Anschlüsse ist das heute der direktere Zugang. Außerdem sind Formen, die mehrere Sinne zugleich ansprechen, in ihrer Wirkung stärker. Videos sind damit grundsätzlich wirksamer als Fotos allein oder entsprechendes Lesematerial, wie die Absatzzahlen untermauern.
Der Reiz der Pornografie
Die wenigsten Menschen, die mit Pornografie in Kontakt kommen, nehmen davon dauerhaft Abstand. Auch wenn der erste Kontakt unbeabsichtigt gewesen sein sollte und vielleicht Scham oder Unbehagen auslöste, finden die meisten Menschen immer wieder den Weg zurück zu solchem Material. Warum das so ist, ist leicht erklärt.
Das Ansehen von Sexualität, insbesondere wenn sie so dargestellt ist, dass man sich gut und gerne damit identifizieren kann, wirkt über die sogenannten «Spiegelneuronen» unseres Gehirns derart, dass wir uns so fühlen, als wären wir selbst dabei. Unser Gehirn spiegelt uns gefühlsmäßige eine Teilnahme an den beobachteten Handlungen. So kommt es auch, dass wir bei traurigen Filmen weinen oder lustigen lachen – man versetzt sich selbst in die betrachtete Handlung hinein. Je klarer der Handlungsstrang, desto leichter erfolgt eine Identifizierung mit den handelnden Personen und desto wirksamer kann man das Gesehene nachempfinden.
Da die Sexualität besonders starke Gefühle in uns auslöst, von Erregung über Konzentration und Anspannung bis zu Entspannung, ist der Mix der Hormone, die beim Betrachten von Pornografie ausgelöst werden, hoch wirksam. Bei manchen ist er derart stark, dass eine Sucht entstehen kann und Pornografie schließlich als nicht-stoffliche «Droge» sehr häufig zum Einsatz kommt.
Die größte Sehnsucht in uns ist jene nach bedingungsloser Annahme durch mindestens einen anderen Menschen.
Verletzte Integrität
Für alle, die einen höheren moralischen Maßstab an sich selbst legen und nicht nur in ihren Handlungen ihrem Partner gegenüber treu sein wollen, sondern auch in ihrer Gefühls- und Gedankenwelt, ist Pornografie eine große Herausforderung. Der stark an- und erregenden Wirkung von Pornografie, die uns heute jederzeit mit nur wenigen Klicks zur Verfügung steht und die auch durch Smartphones unterwegs ständig verfügbar ist, kann nur mit starker Überzeugung und entsprechend großer Willenskraft widerstanden werden. Viele tun sich hierin sehr schwer und lassen sich gedanklich auf sexuelle Abenteuer ein, für die sie sich in der Realität schämen würden. Unsere Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit und Integrität werden aber auch dann verletzt, wenn es nicht zur Handlung kommt, sondern alles ein Fantasiespiegel bleibt. Unser Selbstbild, die Selbstachtung und der Respekt vor den eigenen Wertmaßstäben werden geschmälert – und eine Übertragung der betrachteten Bilder in das eigene Leben wird leichter. Hemmungen schwinden, und schließlich ist der Weg zum «Ausleben» der lange im Kopf gehegten Fantasien leicht und kurz.
Das spiegelt sich in den Auswertungen der Ursachen von Beziehungsbrüchen wider. Inzwischen ist ein sehr häufig genannter Grund das durch Pornografiekonsum eines Partners verletzte Vertrauen in dessen Glaubwürdigkeit und Integrität. Der (in der sexuellen Fantasie) hintergangene Partner fühlt sich betrogen, manchmal – so sehr, als läge tatsächlich ein Ehebruch vor. Dies wird noch verstärkt, wenn der Konsum auch zur Selbstbefriedigung führt, was nahezu die logische Folge ist.
Die Wirkung von Pornografie hängt eng mit der Dauer und dem Inhalt des betrachteten Materials zusammen. Ist der Konsum intensiv und sind die verwendeten Szenen womöglich durch Gewalt angereichert, sind die Folgen schnell sichtbar. Diese reichen von erhöhter Unruhe, Ungeduld und Unausgeglichenheit bis zu Schlaflosigkeit. Die häufig tief empfundene Einsamkeit, die nach dem Konsum umso deutlicher zutage tritt, führt zu einer erhöhten Depressionsanfälligkeit. Außerdem wird in verschiedenen Studien eine verminderte soziale und emotionale Kompetenz beobachtet – durch das Erlernen von falschen, unrealistischen Verhaltens- und Reaktionsmustern, die aus Pornofilmen in das eigene Leben übertragen werden. Daraus folgen bisweilen Bindungsprobleme, Angst- und Vermeidungssituationen. Besonders junge Menschen empfinden verstärkt Schüchternheit und Unsicherheit dem anderen Geschlecht gegenüber, was sie in eine ungesunde Defensive zwingt, führt auch innerhalb bereits bestehender Beziehungen. Der Aufbau gesunder, realer Beziehungen wird damit erschwert.
Auswege
Um die durch Pornografie verletzte Integrität wiederherzustellen, sind besonders drei Dinge zu beachten: Möglichkeit, Mittel und Motiv. Die Möglichkeiten und Mittel, die den Konsum von pornografischem Material gestatten, müssen so stark wie möglich eingeschränkt werden. Beispielsweise durch Pornoblocker bzw. Internetfilter, die man z. T. sogar kostenfrei (z. B. OpenDNS.com) und ganz unkompliziert auf dem Internet-Router installieren kann. Außerdem sollte man sich selbst beobachten, um zu erkennen, in welchen Tagestzeiten genau der Impuls zum Konsum entsteht. Was sind die ersten Anzeichen? Wenn sich diese zeigen, sollte eine Ersatzhandlung ausgeführt werden. Statt des Griffs zum Handy oder Computer zur Nutzung von Pornografie wäre ein Spaziergang ohne Handy oder eine Unterhaltung mit Freunden oder der Familie sehr hilfreich – letztlich alles, was schnell auf andere Gedanken bringt. Umso «glücklicher» die gewählte Ersatzhandlung macht, desto stärker wird sie dem Pornografiekonsum vorbeugen können.
Außerdem muss das Motiv geprüft werden: Was bringt mich dazu, Pornografie zu betrachten? Sind es vielleicht unerfüllte Bedürfnisse oder Wünsche, die ich mit meinem Partner besprechen sollte und evtl. in meiner Partnerschaft erleben könnte? Ein unerfülltes Sexualleben ist einer der größten Antriebe, in die Pornografie zu flüchten – um wenigstens sehen zu können, was man selbst nicht haben kann.
Besonders hilfreich ist das Gespräch mit Vertrauenspersonen über die Herausforderungen, die man in diesem Bereich erlebt. Wer regelmäßig berichtet, wie er sich mit diesen Herausforderungen schlägt, wird sich in Momenten der Versuchung besser bremsen können. Sollten im persönlichen Umfeld keine geeigneten, verständnisvollen Personen vorhanden sein, kann auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe sinnvoll sein.
Der wichtigste Ansatz
Der wichtigste Ansatz zum Erfolg nicht allein im Bereich der Pornografie, sondern grundsätzlich im Umgang mit Versuchungen, findet sich in der Aussage des hochgebildeten, im Altertum für seine Weisheit weltweit berühmten Königs Salomo: «Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben.» So sagte kein Geringerer als Jesus Christus selbst: «Von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen böse Gedanken wie Unzucht ...» – und daraus wiederum verkehrte Handlungen. Der Hiob formulierte darum auch: «Ich hatte einen Bund gemacht mit meinen Augen, dass ich nicht lüsterlich blickte auf eine Jungfrau» (Hiob 31,1).
Einen solchen «Bund» mit unseren Augen zu schließen und nur das anzuschauen, was gut und unseren moralischen Maßstäben entspricht, würde die Tür für viele Versuchungen schließen – sowohl bezüglich der Sexualität als auch in allen anderen Lebensbereichen, in denen wir Versuchungen erliegen stehen und unsere Integrität und Rechtschaffenheit gefährdet sehen.
„Bei manchen sind die Empfindungen derart stark, dass eine Sucht entstehen kann und Pornografie schließlich als nicht stoffliche «Droge» sehr häufig zum Einsatz kommt.“