Fehler. Was sie mit mir machen.Was ich mit ihnen mache.
Autor/in: Elitsa Boksberger (Beratung & Seelsorge)
Ausgabe: Leben & Gesundheit, Mai/2019 - Integrität
Ich bin von so viel Ehrlichkeit beeindruckt
Eine sehr gute Freundin erzählte mir, wie sie diesen Frühling ihre Tasche samt Geldbörse (mit nicht wenig Geld darin) im Bus vergessen hatte. Ein paar Stunden später, nachdem sie mehrmals nachgefragt hatte, ob etwas gefunden worden sei, habe man sie kontaktiert. Sie bekam die Tasche mit dem ganzen Inhalt wieder zurück!
Ich freute mich für meine Freundin, die sonst, neben dem großen Verlust, viele Karten hätte sperren lassen müssen. Ja, ich freue mich aufrichtig, dass es ehrliche und verständnisvolle Menschen gibt, die wissen, wie es sich anfühlt, wenn man etwas verliert.
Die innere kritische Stimme
«So eine bist du aber nicht …»
«Hä? Wie meinst du das jetzt?» Während ich mich freue, werde ich von meiner inneren kritischen Stimme daran erinnert, dass ich nicht unbedingt zu der Spezies gehöre, die immer ehrlich, mitfühlend und korrekt handelt. Die innere Stimme fährt unbeirrt und unerbittlich fort, und die Erinnerung kommt wieder, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ich war 23 Jahre alt, als ich in der Straßenbahn einen Turnbeutel mit teuren Markenschuhen fand. Ich nahm den Beutel an mich, um ihn abzugeben … habe es aber nie getan. Die ermahnende Stimme nahm Fahrt auf, und die Erinnerungsflut drohte mich zu ertränken.Eine Geschichte nach der anderen kam zum Vorschein. Und die Erinnerungen wurden dunkler und dunkler: Begebenheiten aus meiner Jugendzeit, aus meiner Kindheit sogar, und Fehler aus längst vergangenen Zeiten. Doch irgendwie verblassen die Erinnerungen, aber die Gefühle daran nicht. Wenn ich die Augen schließe, kann ich die Situationen noch sehen und hören, wie wenn sie sich gestern abgespielt hätten. Und leider geht es da nicht nur um Markenschuhe. Verletzte Gesichter. Gebrochene Stimmen. Tränen. Fehler. Scham. Schuld. Je geradliniger ich in meinem bewussten Erwachsenenalter leben möchte, desto mehr scheinen mich Scham und Schuld aus der Vergangenheit davon abhalten zu wollen. Immer wieder habe ich versucht, dagegen vorzugehen. Die «Vogel-Strauß-Politik» mit ihrer «Kopf in den Sand»-Taktik half mir dabei nicht weiter. Ich habe wirklich versucht, die Fehler, die ich gemacht habe, oder Verletzungen, die mir angetan wurden, zu ignorieren. Erfolglos. Auch Wut hat mich längerfristig nicht weitergebracht.
Kennst du die Trauer?
Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn dich jemand verletzt hat und du traurig darüber bist? Wenn du dich in den Tränen darüber, was gewesen war oder hätte sein können, fast ertränkst? Ich kenne dieses erdrückende Gefühl sehr gut. Manchmal fürchtete ich, für immer in der Traurigkeit hängen zu bleiben. Wenn es darum geht, mit meinen eigenen oder mit den Fehlern anderer fertigzuwerden, spielte die Trauer schon eine wichtige Rolle. Für eine Weile half sie mir, mit der Situation besser umzugehen, aber die Lösung war sie nicht. Manchmal wurde sie so übergroß, dass sie zu einer Frustration und stillen Verzweiflung führte. Und dann wieder zu Wut. Mir oder XY gegenüber. Gar nicht gut. Für meine Umgebung nicht und schon gar nicht für mich und meine Gesundheit.
Endstation Gefängniszelle?
Ignorieren, Wut, Bitterkeit, Trauer, Unversöhnlichkeit sind wie Stationen, durch die wir gehen, wenn wir verletzt worden sind oder verletzt haben. Es sind Versuche, mit dem Geschehenen umzugehen. Wütend zu werden, wenn jemand an uns schuldig geworden ist, ist eine kurze Hilfe. Trauer über den Bruch einer langjährigen Beziehung schafft auch nur vorübergehend Erleichterung. Eine üble Tatsache zu übergehen, hilft nur momentan. Aber es kommt der Tag, hoffentlich, an dem wir uns mit all diesen Sorgen und Nöten auseinandersetzen und sie endgültig ablegen müssen. Denn es hilft schlussendlich nicht, wenn wir diese Stationen – Ignoranz, Wut, Trauer – endlos durchlaufen. Die Versuche, mit den Fehlern zu jonglieren, unabhängig ob mit meinen eigenen oder fremden, gleichen den Wänden und Gittern einer Gefängniszelle. Darin sind wir dann eingeschlossen, gefangen, samt unserer Freiheit.
Ich vergebe mir – ich vergebe dem anderen. Jeder von uns hat diesen Schlüssel bei sich
Pack die Freiheit am Schopf!
Freiheit, Verständnis, Mitgefühl mit sich selbst, Seelenfrieden, reinen Tisch mit mir und der Welt. Energie und Kraft, die ich für das Jetzt des Lebens und für die Zukunft brauche. Dieser Zustand ist möglich. Aber ich muss aktiv werden. Ich muss den Schlüssel für die Gefängniszelle aus der Hosentasche herausfischen und die Zelle öffnen. Dieser Schlüssel heißt Vergebung!
Ich vergebe mir – ich vergebe dem anderen. Jeder von uns hat diesen Schlüssel bei sich. Vergebung heißt nicht «Schwamm drüber».Es bedeutet auch nicht: «Ach, die Zeit wird die Wunde schon heilen» oder «Lass Gras darüber wachsen». Vergebung heißt nicht vergessen. Vergeben ist auch nicht, etwas ungeschehen zu machen. Der Schuldige trägt die Folgen seiner Fehler, doch diese müssen nicht sein Leben zermürben. Vergebung ist die Entscheidung, die Fehler und die verursachten Schmerzen «abzu-geben» – zu «ver-geben». Weg mit der Last. Weg von mir. Weg von meinem Herzen. Weg von meiner Seele!
Befreit und beflügelt dank Vergebung
Eine Klientin kam zu unserem vereinbarten Beratungsgespräch. Sie sah völlig zerknirscht aus. Nach ihrem Wunsch widmeten wir uns den aktuellen Ereignissen in ihrem Leben. Sie erzählte mir, dass sie immer wieder in dieselbe Fehlergruppe hineinfällt. So auch vor kurzem. Sie schämte sich. Bei der Vorstellung, wie andere Menschen ihren Fehler beurteilten, sie deswegen verspotteten und ausgrenzten, wurde sie rot und schwitzte stark. Und die Schuld, die sie spürte, raubte ihr die Energie. Sie wollte sich nur noch zu Hause verkriechen. «Das hätte ich nicht tun sollen!», schluchzte sie. Sie fühlte sich machtlos, kraftlos und ohnmächtig. Während des Beratungsprozesses hat sie sich die Erlaubnis gegeben, Fehler zu machen, und erlebte, wie befreiend es ist, wenn man sich seinen Fehlern stellt und sich vergibt.
Wir alle können uns für das Vergeben entscheiden. Wenn es für dich an der Zeit ist, dann kann dich diese kleine Auswahl an Schritten vielleicht unterstützen und inspirieren.
Gehe im Geist alle Situationen in deinem Leben durch, die du mit Fehlern deinerseits verbindest.
Beginne bei der aktuellsten Situation und gehe zurück in die Vergangenheit – bis zu deiner ersten bewussten Erinnerung. Schreibe sie auf einer Liste auf.Gehe die Situationen eine nach der anderen noch einmal durch und überlege dir dabei folgende Punkte:
a. Wie viel Verantwortung hattest du bei der jeweiligen Situation wirklich?
b. Frage dich, warum du so gehandelt hast. Was hat dich dazu bewegt?
Wenn du möchtest, kannst du diese Überlegungen auch schriftlich festhalten. So kannst du deiner schreibenden Stimme die Möglichkeit geben, sich in Ruhe auch darüber zu äußern.Gibt es Situationen aus dieser Liste, bei denen du noch etwas machen möchtest und kannst?
Einen Anruf, ein Treffen, einen Brief, einen Besuch auf dem Friedhof? Halte, wenn du möchtest, auch hier deine Ideen und Vorhaben schriftlich fest.
Bei diesem Punkt ist es wichtig, nichts zu erwarten. Dir selbst zu vergeben ist jederzeit möglich. Aber dich mit einer Person zu versöhnen, die du verletzt hast, ist nur dann möglich, wenn auch das Gegenüber bereit ist, dir zu vergeben.Wenn du an Gott glaubst, weißt du, wie viel Kraft und Macht Gottes Gnade und Liebe in unserem Leben ausüben.
Formuliere einen Brief an Gott, in welchem du dich auf diese Liste beziehst und darüber schreibst, wie du dich fühlst (Scham, Schuld, Ohnmacht, Reue). Bitte ihn, dir zu vergeben.
5. Vernichte nun diese Liste ein für alle Mal.
Du kannst dir einen ruhigen Ort suchen, die Liste laut vorlesen und dir vergeben, indem du sie z. B. verbrennst. Du kannst sie aber auch an einen Stein binden und sie in einen See oder Fluss werfen. Oder sie schreddern. Du kannst jeden Fehler auf einem einzelnen Blatt aufschreiben, ihn laut vorsagen und mit dem Wort «vergeben» abstempeln.
Meine Klientin hat eine lange Liste und einen mehrseitigen Brief an Gott geschrieben. Danach hat sie alles verbrannt, die Asche in einen Briefumschlag gelegt und von einer Brücke bei Sonnenuntergang verstreut. Auf die Frage, wie sie das alles erlebt habe, antwortete sie knapp und bestimmt:
«Beflügelnd und befreiend»!
Wir werden mit Sicherheit weiterhin verletzt. Und Fehler werden wir mit Sicherheit auch weiterhin machen. Manchmal bewusst, oft unbewusst. Und wenn wir genug ignoriert, geweint, uns bemitleidet, geschrien und getobt haben, dann lohnt es sich, die Gefängniszelle zu öffnen.
„Vergebung ist die Entscheidung, die Fehler und die verursachten Schmerzen abzugeben. Weg mit der Last. Weg von mir. Weg von meinem Herzen. Weg von meiner Seele!“