Kränkungen entmachten –wie ein Heilungsprozess möglich wird

Autor/in: Günther Maurer (Gesundheitsberater, Seelsorger)

Ausgabe: Leben & Gesundheit, Februar/2019 - Vertrauen

 

«Au», das hat weh getan. Diese Aussage hinterlässt bleibende Spuren. Die Stimmung ist plötzlich gereizt, der Aggressionspegel hoch. Dabei hat alles so gut angefangen, bis dieser kränkende Ausspruch im Raum stand und das Miteinander von einer Minute zur anderen veränderte. Doch es sind nicht nur Worte, sondern auch deren Klang, Mimik und Gesten, verächtliche Blicke oder auch das Übersehen und wie Luft behandelt werden, die uns entwerten, verletzen, demütigen und entsprechende Reaktionen auslösen.

KRÄNKUNG, eine GROSSMACHT

Deshalb schreibe ich KRÄNKUNG groß. Sie ist eine GROSSMACHT. Da sie jedem im Laufe des Lebens begegnet, dürfen wir nicht einfach weglaufen und so tun, als pralle alles von uns ab. Wer lernt, mit Kränkungen umzugehen, dass diese nicht unsere weiteren Lebensentscheidungen und unser Miteinander negativ beeinflussen, tut sich und seinem Umfeld nur Gutes. Kränkungen trüben die Lebensfreude, lassen kränkezernende Verbitterung zurück und bestimmen nur allzu leicht – lautstark oder auch schmerzhaft schweigsam – unsere Beziehungen. Außerdem höhlen sie unser Selbstwertgefühl aus. Je nach Stärke der Kränkung und unserer Fähig- oder Unfähigkeit, darauf zu reagieren, kann ein persönliches «Erdbeben» ausgelöst werden. Eine Kränkung ist wie ein Schlag ins Gesicht, der uns seelischen tiefen Schmerz zufügt. Geschieht dieser seelische Schlagabtausch vor anderen – sei es am Arbeitsplatz, in der Familie, unter Freunden – dann ist die Auswirkung entsprechend verstärkt. Dabei gilt: Je näher wir der Person, die uns kränkt, stehen, desto bedeutender und umfassender ist die Wirkung.

Kränkungen sind häufig der Sammelplatz für Gegenangriffe, Rachegedanken und Leid. Was kränkt, macht krank! Die Auswirkungen sind ganzheitlich. Kränkungen beeinflussen Körper, Seele, Geist und Soziales negativ. Wie wahr ist doch ein Spruch aus der Mongolei: «Ein gutes Wort ist für drei Winter Wärme; ein böses Wort kränkt wie drei Monate Frost.»

Wir können nicht verhindern, dass wir in irgendeiner Weise Kränkungen erleben. Sie schmerzen vor allem dann, wenn sie einen wunden Punkt unserer Vergangenheit oder auf unsere Werte – besonders unser Selbstwert – treffen und unser Gerechtigkeitsempfinden verletzen. Sie lösen Enttäuschungen aus, weil Erwartungen nicht erfüllt wurden und wir uns abgelehnt sowie unverstanden fühlen. Aber es liegt an uns, zu lernen, wie wir mit ihnen umgehen. Wir können den zerstörerischen Gedanken und Emotionen heilend begegnen.

Wie mit Kränkungen umgehen? Teil 1

Es liegt an uns, gekränkten Menschen in unserem Lebensumfeld ermutigende Begleitung anzubieten und damit eine Gegenkultur zur weitverbreiteten Geringschätzung, Oberflächlichkeit und Entwertung zu leben. Ein tiefgründiger Gedanke des Apostels Paulus hat mir thematisch die Augen geöffnet, wenn dieser es so formuliert: «Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem.» (Römer 12,21). Viktor Frankl hat in schwersten menschlichen Nöten und Kränkungen im Konzentrationslager die unglaubliche Aussage getroffen und danach gelebt: «Es gibt etwas, was mir nicht nehmen könnt: Meine Freiheit, wie ich auf das, was mir anut, reagiere … Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.»

Unterschiedliche Wahrnehmung

Kränkungen erleben nicht alle gleich. Zu verschieden sind wir. Zu unterschiedlich sind unsere «Lebensbegaben» und Biografien. Der eine erweist sich als dickhäutig und widerstandsfähig, ein anderer wiederum als dünnhäutig, überempfindlich und äußerst verletzlich. Einer hat sich gewisse Bewältigungsmechanismen angeeignet, ein anderer ist Kränkungen hilflos ausgeliefert und findet ohne Hilfe von außen keine innere Ruhe und Gelassenheit mehr. Menschen mit Selbstzweifeln und geringem Selbstwertgefühl sind für Kränkungen anfalliger. Auch narzisstisch veranlagte Menschen sind beim Einstecken von kränkenden Aussagen extrem empfindlich – im Gegensatz können aber gerade diese schockiert austeilen und andere verletzen.

Von Müll und Enttäuschung verschüttet!?

Kränkungen beeinflussen unser Leben nachhaltig und entwickeln im Untergrund schleichend ihre nagende und krankmachende Wirkung. Im emotionalen Gedächtnis bleiben Beleidigungen Spitzenplätze und werden zu einer kochenden Basis eines gärenden Verbitterungsprozesses. Somit bleibt die Kränkung stets gegenwärtig. Wer sich darauf einlässt, erlebt den erlittenen Schmerz immer wieder neu und aktuell.

Durch die Empfindung des Ausgeliefertseins bleiben die Emotionen verletzt, und die Lebensmelodie wird zu einer Folge düsterer Moll-Akkorde. Die damit einhergehende trübe Stimmung, die unser soziales Umfeld wahrnimmt und sich in Folge zurückzieht, führt dazu, dass sich der Gekränkte allein gelassen und unverstanden wähnt und die Schuld dafür immer der erlittenen Kränkung zuschiebt.

Während die Verbitterung innerlich aufwühlt, wächst äußerlich ein starrer Panzer. Das Denken konzentriert sich auf das erlittene Unrecht. Der innere Friede hat sich verabschiedet, Loslassen und Vergebungsbereitschaft sind vom Müll aus Enttäuschung und Selbstmitleid zugedeckt. «Die Verbitterung ist eine Mischung aus Aggressivität und Resignation, aus Rachegefühlt und Selbstzerstörung», schreibt Dr. Michael Linden. Die ganzheitliche Wirkung berührt neben der Psyche auch den körperlichen Aspekt. Da Verbitterung eine chronische Stressreaktion hervorruft, sind Auswirkungen z. B. auf Blutdruck, Stoffwechsel, Hormonhaushalt und Muskeln die Folgen.

Kränkungen beeinträchtigen die Stimmung, die Konzentration und die Lebensfreude sowie Interessen rund um uns.

Über die destruktiven Folgen von Kränkungen wissen wir nun genug, obwohl es noch viele weitere «Spielarten» zu erwähnen gäbe, in deren Boden sich genauso bittere Wurzeln mit entsprechenden Früchten entwickeln.

Wie mit Kränkungen umgehen? Teil 2

Angeregt durch die Aussage von Viktor Frankl: «Gib nicht anderen die Schuld für dein Unglück. Übernimm für dein Glück selbst die Verantwortung! Menschliches Verhalten wird nicht von Bedingungen diktiert, die der Mensch antrifft, sondern von Entscheidungen, die er selbst trifft», können wir uns der herausfordernden Frage stellen, ob wir aus den Tiefen der Kränkungsmuster dennoch auch etwas für uns selbst und für unser Miteinander lernen können.

Die Bewältigung von Kränkungen ist trotz der großen Herausforderung ein lohnenswertes Unterfangen. Weil wir uns in solchen Situationen oft hilf- und sprachlos erleben, tut eine empathische Begleitung gut.

Da uns eine Kränkung nur dann trifft, wenn sie einen sogenannten bewussten oder unbewussten wunden oder wertvollen Punkt unseres Lebens berührt, können wir uns dadurch zu einer bewussten gedanklichen Vertiefung anregen lassen. Muss ich etwas «anschauen» und «aufarbeiten», was ich bisher verdrängt habe? Was ist mir so wichtig und wertvoll, dass ich bereit bin, dafür mit Selbstachtung einzustehen? Wofür bin ich bereit, «einzustecken», ohne mich zu beugen?

Wer uns oder andere kränkt, zeigt damit eine Facette seiner Persönlichkeit. Wenn wir in solchen Situationen nicht einfach so tun, als wäre alles in Ordnung, sondern ein Feedback geben, was dies in uns auslöst, nehmen wir nicht nur in unserer eigenen Kompetenz zu, sondern können auch dem Kränker signalisieren, sich selber Gedanken zu machen und sich für sein Verhalten verantwortlich zu zeigen.

Die Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen, stärkt und bereichert das menschliche Miteinander. Empathie (Einfühlungsvermögen) wird zu Recht als Grundlage von Menschenkenntnis und zwischenmenschlicher Beziehung betrachtet.

Kränkungen begegnen uns in unserem Leben immer wieder. Wir können uns ihnen nicht entziehen, aber wir können lernen, Kränkungen zu entmachten.

Wie mit Kränkungen umgehen? Teil 3, Reinhard Haller

Reinhard Haller hat in seinem Buch «Die Macht der Kränkung» acht hilfreiche Schritte im Bereich der Einstellung, der Reflexion und der Wertung bezüglich Kränkung und Kränkbarkeit aufgezeichnet, um diese konstruktiv zu bewältigen.

1. Schritt: Lufthohheit über das Kränkungsgeschehen übernehmen
Allein der Gekränkte kann festlegen, welche Bedeutung der Absender in seinen sozialen Beziehungen hat und ob er der Kränkungsbotschaft überhaupt die Chance gibt, sich bei ihm auszuwirken. Die bösartigste Beleidigung und die hinterhältigste Entwertung verlieren jegliche Sprengkraft, wenn sie der Empfänger relativiert, neutralisiert oder ihnen keine Bedeutung beimisst.

2. Schritt: Transparenz schaffen (ansprechen)
Die Transparenz beginnt dort, wo die Kränkung angesprochen und der Kränkende (Sender) damit konfrontiert wird.

3. Schritt: Kränkungsbotschaft analysieren
Oft gelingt eine nüchterne Analyse besser, wenn man das, was einen kränkt, mit sich selbst in einem inneren Dialog bespricht oder aufschreibt. Noch wirksamer ist die Erörterung mit einer außenstehenden neutralen Person.

4. Schritt: In die Haut des Kränkenden schlüpfen
Um die «Lufthoheit» im Kränkungsgeschehen zu übernehmen, kann es hilfreich sein, in die Haut des Kränkenden zu schlüpfen. Nur wenn ich mich in ihn hineinfühle, also empathisch bin, werde ich einen Zugang zu seinen möglichen Beweggründen finden.

5. Schritt: Eigene Kränkungsmuster überdenken und durchbrechen
Instinktiv reagieren wir auf Kränkungen mit zum Teil generell verbreiteten Mustern wie Schweigen, Zorn, Wut oder Rachegefühlen. Dies bedeutet, dass wir uns in unserer Selbstbestimmung einengen lassen und auf Alternativen verzichten.

6. Schritt: Loslassen
Das zwanghafte und manchmal nahezu süchtige Denken an die Vergangenheit bedeutet Bindung, ja Fesselung, jedenfalls fehlende Freiheit und Souveränität.

7. Schritt: Perspektivenwechsel
Der wirksamste Perspektivenwechsel liegt im emotionalen Bereich. Gelingt es, eine andere psychische Gestimmtheit einzunehmen als im ersten Kränkungsschock, gewinnt man an Distanz, Sicherheit und Gelassenheit.

8. Schritt: Verzeihen
Die reifste, edelste, aber auch am schwersten erreichbare Form des Umgangs mit Kränkungen ist die Vergebung. Solange wir unversöhnlich sind, bleiben wir gefangen und geben den Verletzenden Macht über uns, ein Zuviel an Bedeutung und Einfluss. Wir halten uns selbst in der Opferrolle gefangen, in die uns andere durch die Kränkung gebracht haben.

Kränkungen begegnen uns in unserem Leben immer wieder. Wir können uns ihnen nicht entziehen, aber wir können lernen, Kränkungen zu entmachten. Niemals sollten wir ihnen im Alltag die Vorherrschaft überlassen, sondern uns ganz im Gegenteil sagen: Einen Heilungsprozess in Gang zu setzen, ist möglich.

Kränkungszyklus Wardetzki:
Wenn ich nicht lerne, mit persönlich empfundenen und erlebten Kränkungen umzugehen, bin ich einem destruktiven Kränkungszyklus ausgeliefert (siehe Schema von Bärbel Wardetzki – Ohrfeige für die Seele).

→ Verletzung / Kränkung
→ Schmerz / Scham / Angst
→ Abwehrreaktion
→ Wut / Ohnmacht / Trotz

Folge:

  1. Beziehungsabbruch

  2. Rache

  3. Selbstmitleid

Wir können uns Kränkungen nicht entziehen, aber wir können lernen, Kränkungen zu entmachten.

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