DIE SACHE MIT DEM GLEICHGEWICHT – vom Umgang mit Hochsensibilität

 

Autor: Martina Witzig
Ausgabe: Leben und Gesundheit, 01/2025 - Ruhe

Je höher die Sensibilität ausgeprägt ist, desto wichtiger und herausfordernder ist das Halten der Balance. Hilfreiche Tipps nicht nur für hochsensibel veranlagte Menschen.

Es ist ein warmer Sommerabend. Ich spaziere mit einer Freundin über Umwege vom Restaurant zurück zum Bahnhof. Wir sind ins Gespräch vertieft. Ich erzähle ihr, wie schwer es mir fällt, mein inneres Gleichgewicht zu finden. Mir ist schnell alles zu viel – der Haushalt, die Kinder und ihre Anliegen, ehrenamtliche und nebenberufliche Tätigkeiten, familiäre Angelegenheiten und soziale Verpflichtungen. Ziehe ich mich zurück und übernehme weniger Aufgaben, bin ich schnell unterfordert. Work-Life-Balance will mir einfach nicht gelingen. Ich klage ihr mein Leid, dass ich das Gefühl habe, den Zustand des Gleichgewichts nie zu erreichen oder wenn ich denke, es geschafft zu haben, etwas Neues auftaucht, das mich aus der Bahn wirft. Sie schaut mich an und meint: «Gleichgewicht ist nichts Statisches.»

Eine bedeutende Erkenntnis
Es ist, als würde eine Last von mir abfallen. Gleichgewicht ist nicht etwas, das du einmal erreichst und für immer behältst. Gleichgewicht muss immer neu ausbalanciert werden. Es muss aktiv gehalten werden, was einer gewissen Übung bedarf. Und genau wie im Sport die Stabilisatoren trainiert werden, kann ich mein inneres Gleichgewicht ebenfalls trainieren.

Unser Gespräch hallt noch lange bei mir nach. Nicht jeder Mensch hat von Natur aus einen guten Gleichgewichtssinn. Dasselbe gilt fürs innere Gleichgewicht. Menschen, die wie ich mit einer hochsensiblen Veranlagung geboren werden, fällt es schwerer, im Gleichgewicht zu bleiben, da ihre Komfortzone deutlich schmaler ist als bei nicht hochsensiblen Personen.

In unserer heutigen, auf schnelle Leistung getrimmten Gesellschaft steht hohe Sensibilität nicht hoch im Kurs. Hochsensible Menschen werden häufig als Mimosen, weniger leistungsfähig, empfindlich und kompliziert angesehen. Doch was bedeutet hohe Sensibilität? Sind Menschen mit hoher Sensibilität wirklich weniger leistungsfähig?

Hochsensibilität kurz erklärt
Hochsensibilität ist ein in den 1990er Jahren von Elaine und Art Aron beschriebenes Konzept, unter dem man eine intensivere, zentralnervöse Verarbeitung innerer und äußerer Reize versteht. Dabei handelt es sich um eine angeborene Disposition oder ein Temperamentsmerkmal. Ungefähr 15–20 % der Bevölkerung sind davon betroffen. Elaine Aron erforschte diese Veranlagung und prägte die Begriffe «highly sensitive person» und «sensory-processing sensitivity».

Hochsensible Personen (HSP) zeichnen sich dadurch aus, dass sie oft bereits unterschwellige Reize wahrnehmen und über ein großes Feingefühl verfügen. Ihr Gehirn ist wachsamer, rascher angeregt, aber bei Ungewohntem auch schneller alarmiert.

Als typische Merkmale gelten: stark ausgeprägte Wahrnehmung, gründliche Informationsverarbeitung, emotionale Intensität mit Neigung zur Überreizung, eine schmale Komfortzone und langes Nachhallen.

Es gibt verschiedene Typen:

  • Sensorisch Hochsensible – empfindlich für Gerüche, Geräusche, visuelle Eindrücke.

  • Empathisch Hochsensible – spüren Stimmungen anderer sofort und tragen oft schwere Lasten mit.

  • Kognitiv Hochsensible – erkennen rasch Zusammenhänge in unterschiedlichen Wissensgebieten.

Hochsensibilität ist nicht gleichzusetzen mit Introversion oder geringerer Leistungsfähigkeit. Auch extrovertierte Menschen können hochsensibel sein.

Menschen, die mit einer hoch­sensiblen Veran­lagung geboren werden, fällt es schwerer, im Gleich­gewicht zu bleiben.

Wie Hochsensibilität erlebt wird
Positiv erlebt werden eine ausgeprägte Intuition, intensives Empfinden, hohes Pflichtbewusstsein, Gerechtigkeitssinn, Kreativität und eine feine Detailwahrnehmung. Negativ können eine erhöhte Stressanfälligkeit, Reizüberflutung, geringere Abgrenzungsfähigkeit und psychosomatische Beschwerden wahrgenommen werden.

Ein gesunder Umgang mit Hochsensibilität – Leben im Gleichgewicht
Ein wichtiger Schritt ist die Selbstannahme: die eigenen Begrenzungen und Stärken akzeptieren. Versuche nicht, wie andere zu sein, sondern finde deine eigene Komfortzone, in der erfülltes Leben möglich ist.

Achte auf einen gesunden Lebensstil: ausgewogene Ernährung, Bewegung, frische Luft, Sonnenlicht, Ruhe, Mäßigkeit, gesunde Beziehungen und ein bewusster Umgang mit Reizen. Pausen helfen, die Informationsflut zu verarbeiten. Emotionale Regulation und Vergebung sind zentrale Elemente.

Gesunde Grenzen
Ein «Nein» ist immer auch ein «Ja» zu etwas anderem. Grenzen setzen heißt, die eigenen Werte, Ziele und Prioritäten ernst zu nehmen. Grenzen sollen nicht einengen, sondern Schutz bieten und Entwicklung ermöglichen.

Wenn das Gleichgewicht ins Wanken gerät
Halte einen persönlichen Erste-Hilfe-Kasten bereit: tiefe Atemübungen, Erdung, Gebet, Musik, ein Rückzugsort oder ein kurzer Spaziergang helfen, die innere Balance wiederzufinden. Wenn das Gleichgewicht verloren geht, sei gnädig mit dir selbst, richte die Krone und geh weiter – Gleichgewicht kann immer wieder neu gefunden werden.

Gleichgewicht ist nichts Statisches.

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