SCHLAFLOS DURCH DIE NACHT – zur Ruhe finden
Autor: Dr. Herald Hopf
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt der Tagesklinik Waldfriede und Privatklinik Nikolassee
Ausgabe: Leben & Gesundheit, Januar / Februar 2025 - Ruhe
Schlaflosigkeit ist ein zunehmendes Problem. Schätzungen zufolge sind die Zahlen in der Schweiz, Deutschland und Österreich vergleichbar steigend und erreichen vielerorts die 30 Prozent-Grenze. Wie weiter?
GEDANKENKARUSSELL
Ein unachtsamer Moment – als plötzlich der Regen einsetzte, rannte ich los, um an mein Auto zu kommen. Eine Stunde später rief mich die Polizei an: Ein Ausweis war gefunden worden und mein Portemonnaie war weg. Von der Geldbörse und von allen weiteren Papieren darin fehlte jede Spur.
Die Gedanken kreisten: War mir die Börse beim Rennen herausgefallen oder war sie gestohlen worden? Leider blieben die Gedanken auch in der Nacht und ließen mich immer wieder aufwachen.
ALLZEIT BEREIT ZUR FLUCHT
Eigentlich eine Kleinigkeit – und doch hat sie Auswirkungen auf die Nachtruhe. Schlaf scheint eine sensible Angelegenheit zu sein. Eigentlich ist das auch sinnvoll. In einer Umwelt voller Gefahren ist (war) es wichtig, nachts schnell wach zu werden, wenn Raubtiere oder menschliche Räuber das Leben gefährden oder im Gewittersturm die Hütte einzustürzen droht.
Der menschliche Schlaf ist also gar nicht vorgesehen für hinlegen, acht Stunden tief ungestört schlafen und danach erfrischt aufwachen. Immer waren Menschen als Wächter gefragt, die einen leichten Schlaf hatten.
OPTIMIEREN, OPTIMIEREN, OPTIMIEREN ...
Allerdings wird in einer Hochleistungs-Arbeitsgesellschaft menschliche Arbeitszeit als Humankapital gesehen, das es optimal auszunutzen gilt. Zunehmend setzt sich in einem modernen Personalmanagement die Erkenntnis durch, dass Menschen langfristig gute Ergebnisse eher erreichen, wenn sie kreative Pausen mit kurzem Schlaf („Power-Napping“) oder Verlagerung des Fokus – zum Beispiel auf Spiel, Bewegung oder Ruhe – gewährt bekommen.
Sonst besteht die Gefahr der „Müdigkeitsgesellschaft“ (beschrieben bei B.-C. Han, Verlag Matthes und Seitz, Berlin, 2010). Die allgegenwärtige zeitgenössische Kultur des verinnerlichten Drangs zum Übererfolg und der permanenten Selbstoptimierung lässt die Grenzen zwischen Arbeit und Leben verschwimmen. Zu kurz kommt dabei die Fürsorge für andere.
„AMERICA FIRST“?
Das Wahlkampf-Schlagwort „America first“ zeigte deutlich, dass der neue Nationalismus als ein „Ich zuerst“ zu verstehen ist. Als Voraussetzung für steigenden Wohlstand gelten unerbittlich sich steigernde Produktivität und ständiger weltweiter Wettbewerb.
Dadurch verändern Menschen sich in Richtung Selbstbezogenheit – mit der Folge verarmter sozialer Kontakte. Das Ziel von mehr Glück und Erfüllung wird selten damit erreicht. Öfter hinterlässt dieses „Hamsterrad“ ein lähmendes Gefühl von Burnout und Erschöpfung.
Zum Glück gibt es die Möglichkeit Schlaf zu lernen und sich auch an andere Schlafrhythmen zu. gewöhnen.
KOFFEIN & CO.
Die Anforderungen unseres Berufs- und Freizeitlebens sind oft so hoch, dass sie anscheinend nur mit Stimulation von mindestens Koffein und Energy Drinks – zunehmend häufiger aber auch mit Amphetaminen und Kokain – zu erledigen sind.
Die Menge an beschlagnahmtem Kokain hat sich seit 2017 deutlich vervielfacht (Quelle: statista.com). Und das hat nicht nur mit Arbeitsstress zu tun. Auch am Wochenende sind nicht mehr Ausschlafen, Ruhe und Erholung der Schwerpunkt, sondern die Zeit – inklusive der Nacht – soll möglichst ergiebig und effektiv ausgekostet werden.
Erlebnisintensive Freizeit ist angesagt. Das funktioniert unter Energy und Speed leichter. Schlaflosigkeit einerseits und Müdigkeit andererseits sind die direktesten Konsequenzen.
UND WAS IST MIT SCHLAFMITTELN?
Kurzfristig kann Schlaf oder Wachheit durch Substanzen beeinflusst werden. Nach einer Flugreise über Zeitzonen hinweg kann der Jetlag durch Schlafmittel oder Melatonin abgemildert oder verkürzt werden. Ebenso kann ein Schlafmittel auch über einige Tage hinweg bei einer besonderen Ausnahmesituation im Kontext mit anderen Hilfen eingesetzt werden.
Die dauerhafte Einnahme einer Einschlafhilfe bringt in der Regel keinen Nutzen. Das Schlafverhalten gewöhnt sich an unterschiedliche Umstände – auch ans Einschlafen mit Benzodiazepinen oder den sogenannten Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon). Ohne Gewöhnung können sie helfen, schwierige Zeiten besser zu meistern.
Doch bei längerer Einnahme gewöhnt sich unser Gehirn daran, hält die Medikation für den Normalzustand und reagiert alarmiert, wenn der Nachschub ausbleibt. Die Idee, sich mit Substanzen bedenkenlos und immer wieder stimulieren oder schnell in Ruhe und Schlaf versetzen zu können, trügt – sie führt in eine Spirale aus Gewöhnung und Abhängigkeit.
SCHLAFSTÖRUNG ALS POSITIVER INDIKATOR
Dabei ist eine Schlafstörung auch ein wertvoller Hinweisgeber für Lebensprobleme, die es anzugehen gilt. Egal, ob es nun um Verlust, Stress, Konflikte oder neue Herausforderungen geht – der Schlaf spiegelt unser inneres Gleichgewicht wider.
Schlafstörungen sind bei Patientinnen und Patienten oft wie ein Thermostat für seelische oder körperliche Gesundheit. Die alleinige Behandlung der Symptome greift zu kurz – es gilt, die Ursachen zu verstehen.
Die Angst, nicht schlafen zu können, erzeugt paradoxerweise genau das: eine weitere schlaflose Nacht. Trotzdem sorgt der Körper dafür, dass wir nicht länger als 36 bis 48 Stunden ohne Schlaf bleiben – er schaltet immer wieder in den Erholungsmodus.
NATÜRLICHE SCHLAFMITTEL
Das natürliche Beruhigungssystem unseres Körpers wird durch Nähe, Berührung und Zuwendung aktiviert. Säuglinge kommen durch die Stimme und die Nähe vertrauter Menschen zur Ruhe – und dieses System bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen. Deshalb ist menschliche Nähe eines der wirksamsten „Schlafmittel“.
EULEN UND LERCHEN
Jeder Mensch hat unterschiedliche Schlafrhythmen – von der Nachteule bis zur Frühaufsteherin. Beides ist normal und bedarf keiner Behandlung, solange es zur Lebensweise passt.
SCHLAFEN LERNEN
Zum Glück gibt es die Möglichkeit, Schlaf zu lernen und sich an andere Rhythmen zu gewöhnen.
Kinder, Schichtarbeiter, Senioren – alle beweisen, dass Anpassung an wechselnde Schlafmuster möglich ist. Wichtig sind dabei individuelle Lösungen und Achtsamkeit für die eigenen Grenzen.
URSACHEN UND VORBEUGUNG
Die häufigsten Auslöser moderner Schlafprobleme sind:
Überhöhte Selbstanforderung an Flexibilität und Leistung
Geringe Bereitschaft, auf Körpersignale zu achten
Anhaltende Beschäftigung mit emotional Bewegendem
Konsum von Stimulantien und Schlafmedikamenten
Angst vor Leistungsabfall durch schlechten Schlaf
Einsamkeit und mangelnde Akzeptanz von Altersveränderungen
EMPFEHLUNGEN
Zeit für Achtsamkeit, Gebet oder Meditation hilft, zur Ruhe zu kommen.
Medienreduktion und bewusste Stille fördern mentale Erholung.
Beunruhigung darf in Maßen ausgehalten werden – das stärkt Selbstvertrauen.
Kurzes Ruhen ist erholsam, selbst ohne Tiefschlaf.
Offene, liebevolle Kontakte sind ein starkes Beruhigungsmittel.
Vertrauen – auch in ein höheres Wesen – wirkt heilsam.
DER MENSCH IST EIN GEWOHNHEITSTIER
Wir können uns sowohl gute als auch schlechte Schlafgewohnheiten antrainieren. Entscheidend ist, jene Dinge zu pflegen, die uns guttun – und alles andere schrittweise loszulassen.
„Der menschliche Schlaf ist also gar nicht vorgesehen für hinlegen, acht Stunden tief ungestört schlafen und danach erfrischt aufwachen.“