Wer es nicht im Kopf hat, hat es auch nicht in den Beinen

 

Autor/in: Jonathan Häußer (Arzt und Sportwissenschaftler, Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Autor bei sportsandmedicine.com)

Ausgabe: Leben & Gesundheit - Fitness

“Wer es nicht im Kopf hat, hat es auch nicht in den Beinen”

Na klar, das Sprichwort lautet anders. Eigentlich sollen gerade die, die es nicht im Kopf haben, körperlich bevorteilt sein. Ebenso sollten schlechte Schüler gut in Sport und umgekehrt die Schüler mit den guten Noten schlecht in Sport sein. Auch wenn es sicherlich Fälle gibt, bei denen das zutrifft, kann man häufiger das Gegenteil beobachten. Die Forschung hat in den letzten Jahren einige Beispiele dafür geliefert.

Zunächst aber einmal ein paar Worte zum Gehirn an sich. Es ist ein faszinierendes Organ, dessen Funktion wir bis heute nicht vollständig verstehen. Für eine gute Funktion ist nicht nur die Größe bzw. Masse entscheidend. Diese bestimmt zwar, wie viele Nervenzellen es gibt, es kommt aber darauf an, wie diese verknüpft sind. Die Verknüpfungsstellen nennt man Synapsen. Wenn man Neues dazulernt, bilden sich in erster Linie neue Synapsen und nicht neue Nervenzellen. Letzteres wäre ja auch ungünstig, da der Platz in unserem Schädel begrenzt ist. Dadurch ist der Speicherplatz in unserem Gehirn im Gegensatz zur Festplatte eines Computers nicht auf ein bestimmtes Maß begrenzt. Neues Wissen wird stets mit bekanntem Wissensstand verknüpft. Darum erlernt jemand, der bereits fünf Sprachen beherrscht, die sechste umso schneller.

Das Gehirn braucht Bewegung – in jedem Alter

Fangen wir aber am Anfang an. Schon in der Entwicklung des Gehirns ist Bewegung wichtig. Kinder sollten sich mindestens 60 Minuten am Tag bewegen. Wenn sie dieses Pensum erreichen, können sie von besseren kognitiven Funktionen und einer erhöhten Widerstandsfähigkeit gegen Stress profitieren. Der Begriff «kognitive Funktionen» bezieht sich auf alles, was mit der Verarbeitung von Informationen zu tun hat. Das umfasst Dinge wie die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit, das Lernen und das Erinnerungsvermögen. Auch im späteren Leben zahlt sich eine aktive Jugend aus. Wer da Sport treibt, kann sich über eine bessere psychische Gesundheit 20 Jahre später freuen, was wahrscheinlich auf die bessere Stressresistenz zurückzuführen ist. Die Wirkungen, die Bewegung auf das Gehirn hat, kann man sogar sichtbar machen. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass Rattengehirne größer werden, wenn sich die Tiere in ihrer Kindheit regelmäßig bewegen. Durch Sport werden darüber hinaus mehr Gefäße im Gehirn gebildet. Die bessere Durchblutung sorgt ebenfalls für eine bessere Gehirnfunktion. Zusammenfassend gilt: Regelmäßige körperliche Aktivität in Kindheit und Jugend bereitet das Gehirn auf die Aufgaben im Erwachsenenalter vor und verbessert ganz allgemein die Denkfähigkeit.

Ein Leben lang lernen

Früher ging man davon aus, dass sich die Struktur des menschlichen Gehirns schon kurz nach der Geburt nicht mehr verändert. Heute wissen wir, dass in unserem Gehirn zeitlebens Zellen absterben und neue gebildet werden und sich Netzwerke ständig neu organisieren. Das bezeichnet man als neuronale Plastizität und hilft unter anderem bei der Festigung von Erinnerungen. Besonders viel dieser Aktivität sieht man im Hippocampus, in einer Gehirnregion, die vor allem für das Gedächtnis bedeutsam ist. Dort verortet man auch das räumliche Gedächtnis und das Faktenwissen. Körperliche Betätigung übt einen großen Einfluss auf diese Region aus. Bei Nagetieren können sich Teile des Hippocampus durch Sport in ihrer Größe verdoppeln oder sogar verdreifachen. Damit geht auch eine bessere Gedächtnisleistung einher. Neben Tierstudien konnte auch in mehreren Studien an Menschen nachgewiesen werden, dass sich vor allem das räumliche Gedächtnis durch Kraft- und Ausdauertraining verbessert.

Durch Bewegung im Alltag, bekommst du mehr Lebensfreude!

Der Depression entkommen

Damit aber nicht genug. Nicht nur die Entwicklung und die Leistung des Gehirns werden durch Sport beeinflusst. Regelmäßige Bewegung beugt verschiedenen Erkrankungen des Nervensystems und der Psyche vor und kommt auch in deren Behandlung zum Einsatz. Eine dieser Erkrankungen ist die Depression. Etwa jeder Zehnte ist davon im Verlauf seines Lebens betroffen. Doch man kann das eigene Risiko senken. Eine gute körperliche Fitness geht seltener mit depressiven Symptomen einher, und körperliche Betätigung schützt vor dieser Erkrankung. Interessanterweise ist es wichtiger, fit als schlank zu sein, um Depressionen vorzubeugen. Ein bisschen Übergewicht ist also nicht so schlimm wie mangelnde Fitness. Natürlich handelt es sich hier um Wahrscheinlichkeiten. Auch die sportlichsten Menschen kann es erwischen. Dann hilft allerdings die Bewegung, die Depression zu überwinden.

Grundsätzlich gibt es verschiedene Therapieformen. Man denkt zunächst an Psychotherapie und Medikamente. Doch in den vergangenen Jahren ist immer deutlicher geworden, welchen Stellenwert Bewegung hat. In Studien schnitten Trainingsprogramme häufig genauso gut ab wie Medikamente und psychologische Therapieverfahren. Dabei war die Bewegungstherapie umso erfolgreicher, je häufiger sie durchgeführt wurde und je höher die Intensität des Trainings war. Zudem waren die Symptome in den Studiengruppen mit Bewegungstherapie langfristig geringer, und es traten weniger Rückfälle auf.

Warum Bewegung so gut wirkt, lässt sich noch nicht sicher sagen. Es gibt mehrere Vermutungen. Zum einen erhält man positive Rückmeldungen von seinem sozialen Umfeld, zum anderen vermittelt Bewegung auch ein Gefühl von Normalität. Darüber hinaus ist es vor allem bei intensiver Betätigung schwierig, sich Sorgen zu machen, und es bietet Ablenkung von bedrückenden Gedanken. Die häufig mit ­Depression einhergehende Erschöpfung wird durch die gesteigerte Fitness gemildert. Nicht zuletzt wird der Hormonhaushalt positiv beeinflusst. Kurz gesagt: Bewegung hilft bei Depression – je häufiger, desto besser. Und es ist wahrscheinlich sinnvoll, Kraft- und Ausdauertraining zu kombinieren.

Bewegung macht dein Gehirn stark – ein Leben lang
— Jonathan Häußer

Demenz vorbeugen

Eine weitere Erkrankung, die aufgrund des demographischen Wandels immer häufiger auftritt, ist die Demenz. Das Hauptproblem dieser Erkrankung ist die stetig abnehmende Gehirnfunktion. Zunächst ist vor allem das Erinnerungsvermögen betroffen, im weiteren Verlauf leiden auch die zeitliche und örtliche Orientierung, bis selbst Familienmitglieder nicht mehr erkannt werden. Es gibt mehrere Arten dieser Erkrankung. Die bekanntesten sind Alzheimer und die vaskuläre Demenz. Erstere geht mit Plaque-Ablagerungen im Gehirn einher, letztere führt durch Gefäßverkalkungen zu Durchblutungsstörungen und kleinen Infarkten und damit zu einer abnehmenden Gehirnleistung.

Zwar erkranken mit fortschreitendem Alter immer mehr Menschen an Demenz, aber es ist nicht unausweichlich. Auch hier wirkt Bewegung vorbeugend. In beiden Fällen haben Studien ein 18–38 % geringeres Risiko bei regelmäßiger körperlicher Bewegung festgestellt. Selbst wenn das genetische Risiko erhöht ist, kann ein gesunder Lebensstil dies ausgleichen. Interessant sind auch Zwillingsstudien, weil dabei die Rolle von Lebensstilfaktoren bei gleichen genetischen Voraussetzungen untersucht werden kann. Auch dort zeigte sich, dass regelmäßiger Sport und eine gute Fitness vorbeugend wirken. Darüber hinaus können bereits an Demenz erkrankte Personen von Bewegung profitieren. Nicht nur die kognitive Funktion verbessert sich dadurch, auch alltägliche Aufgaben können besser bewältigt werden.

Besonders interessant ist, dass der Bewegungsapparat – also Muskeln und Knochen – direkten Einfluss auf die Denkfähigkeit zu haben scheint. Der Bewegungsapparat dient nicht nur der Fortbewegung, sondern produziert auch Hormone. Eines dieser Hormone ist das Osteocalcin. Es wird vom Knochen gebildet und beeinflusst den Zucker- und Fettstoffwechsel. Man hat jetzt aber auch festgestellt, dass Osteocalcin eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Funktion des Gehirns spielt. Wenn man bei Mäusen den Osteocalcin-Spiegel erhöht, verbessert sich deren kognitive Funktion. Vielleicht wird man eines Tages durch die Gabe von Osteocalcin den kognitiven Abbau im Alter bremsen oder aufhalten können. Das ist aber noch Zukunftsmusik. Studien an Menschen gibt es hierzu bisher nicht. Die sicherere Variante ist, sich regelmäßig zu bewegen.

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Wie viel Bewegung ist gesund?

Die WHO empfiehlt als Mindestmaß für Erwachsene 150 Minuten moderate Bewegung oder 75 Minuten intensive Aktivität pro Woche. Den größten Nutzen erreicht man aber mit 300 Minuten moderater Betätigung. Moderat bedeutet, dass man dabei reden, aber nicht singen kann. Beispiele hierfür sind langsames Fahrradfahren, zügiges Gehen oder Wassergymnastik. Bei höherer Intensität ist das Sprechen bis auf einige Wörter nicht möglich. Das ist z. B. beim Joggen, Bahnschwimmen oder Bergwandern der Fall. Zusätzlich sollte 2–3 Mal pro Woche ein Krafttraining durchgeführt werden. Das klingt insgesamt nach viel, man kann das aber wunderbar in den Alltag integrieren. Die Treppe statt des Fahrstuhls nehmen, bei der Fahrt mit dem Bus eine Station früher aussteigen oder mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren sind nur einige Möglichkeiten. Der eigenen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Kinder benötigen im Übrigen noch deutlich mehr Bewegung.


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„Sport ist Mord“ … wirklich?

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