Morgen bin ich sicher ein Vorbild – ICH VERSPRECHE ES!
Autorin: Ben Bornowski (Pastor)
Ausgabe: Leben & Gesundheit, September/Oktober 2025 - Integrität
Haben Sie Vorbilder?
Wenn ja, was zeichnet diese Menschen aus?
TU DAS RICHTIGE!
Bereits mehr als einmal ist es mir passiert, dass ich an der Supermarkt-Kasse zu viel Wechselgeld rausbekommen habe – bringe ich das zu viel erhaltene Geld zurück oder sind das sowieso nur «Peanuts»?
Möglicherweise haben Sie bereits Ähnliches erlebt und sind mit dem inneren Monolog bestens vertraut. Nicht nur die Geschichte, sondern auch unser Alltag stellt immer wieder die Frage danach, das Richtige zu tun und sich nichts vorwerfen zu müssen.
ECHTE VORBILDER
Beim Blick auf das Leben großer Persönlichkeiten, die wir vor allem für ihren Tatendrang und ihren festen moralischen Kompass bewundern, entsteht oft der Eindruck, sie hätten nur in bedeutenden Lebensfragen die richtigen Entscheidungen getroffen. Doch gerade ihr Verhalten im Alltag – in den stillen Momenten, in denen niemand hinsah – zeigt, warum sie bis heute als Vorbilder gelten.
FÜR SEINE ÜBERZEUGUNGEN STERBEN?
Gerne hätte ich Janusz Korczak, einem polnischen Kinderarzt, einmal ins Herz geschaut, als er sich 1942 entschied, mit den Kindern seines Waisenhauses in den Tod zu gehen, statt zu fliehen. Es wird berichtet, dass er den deutschen Befehlshaber mühevoll überreden musste, die Kinder in die Gaskammer des Warschauer KZs begleiten zu dürfen. Der Komponist und Pianist Władysław Szpilman hat als Augenzeuge diese Szene beobachtet und sie in seinen Memoiren festgehalten. Er schrieb über Korczak:
«Lange Jahre seines Lebens hatte er mit Kindern verbracht und auch jetzt, auf dem letzten Weg, wollte er sie nicht allein lassen.»
Möglicherweise ist es uns vertraut, an der Kasse einmal zu wenig zurückbekommen zu haben. Wie oft fühlen wir uns im Alltag übervorteilt und ungerecht behandelt. Ein Blick in diesen dramatischen Moment in Korczaks Leben lässt jedoch jeglichen Verlust nichtig und nicht der Rede wert erscheinen.
Für seine Überzeugungen zu sterben, ist sicherlich keine bewusste Entscheidung mit dem Ziel, dadurch als Vorbild gelten zu wollen. Vielmehr geht es dabei vermutlich darum, sich selbst treu zu sein – ganz unabhängig von den drohenden Konsequenzen.
FÜR DIE EIGENEN ÜBERZEUGUNGEN LEBEN?
Auch die Geschichte von Lilias Trotter, einer Malerin, die jedoch nicht als solche bekannt wurde, berührt mich in dieser Hinsicht. Trotter wird im Jahr 1853 geboren und wächst somit in einer Zeit auf, in der sowieso nur Männer alles besser und überhaupt können.
John Ruskin, seinerzeit ein bekannter und geschätzter Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker, kommt nach der Begegnung mit Trotter in Bezug auf Frauen zu der Erkenntnis:
«Ich fange an, mich auf die viel erfreulichere Überzeugung zu beugen, dass niemand sonst es kann.»
Doch Lilias Einfluss als Malerin bleibt bescheiden. Nicht etwa, weil ihr das Talent abhandenkommt oder Förderer fehlen. Es ist vielmehr ihre eigene Entscheidung, die der Malerei als Profession den Rücken kehrt. Sie schreibt über ihren Entschluss:
«So klar wie das Tageslicht sehe ich jetzt, dass ich mich der Malerei nicht hingeben kann, wie er (Ruskin) es meint, und weiter zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu suchen habe.»
Diese ihre Entscheidung war der Begegnung mit bedürftigen Seelen auf den Straßen von London geschuldet. Durch ihre freiwillige Mitarbeit im damals noch jungen Welbeck Street Institute, einer Herberge für arbeitende Mädchen in London, kam sie in Berührung mit den Frauen, die auf den Straßen dort ums Überleben kämpften. Lilias erkannte die Not dieser Frauen und nahm sich unter anderem der jungen Prostituierten der Victoria Station an.
Aus ihrem freiwilligen Engagement erwächst schließlich die Entscheidung, vollzeitlich für die Mädchen und Frauen zu arbeiten. Doch damit nicht genug: Lilias reist nach Algerien, ohne ein Wort Arabisch zu sprechen. Zum Zeitpunkt ihres Todes im Jahr 1928 hat Lilias dreizehn Missionsstationen gegründet und mehr als dreißig Arbeiter unter dem Namen Algier Mission Band vereint.
GROSSE ENTSCHEIDUNGEN BESTEHEN AUS KLEINEN SCHRITTEN
Während ich einen Moment innehalte, stimmt es mich nachdenklich, wie viel Menschen bereit sind, zu geben, um das Richtige zu tun. Und bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube fest daran, dass «das Richtige» sich nicht stets in großen Heldentaten bemerkbar macht und wir dafür nicht ausschließlich auf anderen Kontinenten aktiv werden müssen.
Sowohl bei Korczak als auch bei Trotter sind die großen Weichen des Lebens nicht von gestern auf heute gestellt worden: Viele kleine Entscheidungen und ein solides Wertekonstrukt sind dem vorangegangen.
OHNE ANGST VOR DEN KONSEQUENZEN
Marie Durand ist ein weiteres bewegendes Beispiel für moralische Standhaftigkeit. Mit nur 19 Jahren wurde sie in den Turm von Constance gesperrt, weil sie sich weigerte, ihrem Glauben abzuschwören. 38 Jahre lang hielt sie an ihrer Überzeugung fest – ein Opfer, das zeigt, wie stark der Wille sein kann, den eigenen Werten treu zu bleiben.
In manchen Fällen mag die Verhältnismäßigkeit in unseren Augen nicht gewährleistet sein: Lohnt es sich wirklich, für meine Überzeugungen Nachteile in Kauf zu nehmen? Doch vermutlich können wir diese Frage nur für unsere eigenen Überzeugungen beantworten.
WAS IST MIR WICHTIG? UND WENN JA, WIE VIEL?
Denken Sie an etwas, das Ihnen besonders wertvoll ist. Eine Sache, eine Initiative, ein Projekt oder sogar Familienmitglieder, die Ihnen sehr am Herzen liegen. Sie sind bereit, nicht nur Geld und Mittel, sondern auch Zeit und Fleiß zu investieren.
Und nun lassen Sie sich dazu hinreißen, eine Zahl festzulegen: Wie hoch wäre Ihr Einsatz für Ihre Kinder, Ihre Partnerschaft, Ihr Lebenswerk? Ist «alles» eine Zahl? Es wirkt falsch, an dieser Stelle eine Zahl einzusetzen, oder?!
Überzeugungen werden nicht anhand einer Ressourcentabelle gemessen! Entweder ist uns etwas wichtig oder nicht. Möglicherweise stellt sich vielmehr die Frage, ob wir den Mut aufbringen, unseren Überzeugungen zu folgen und die Konsequenzen dafür in Kauf zu nehmen.
Sowohl in den oben genannten Beispielen als auch im folgenden Beispiel ist es der Verdienst, der am Ende feststeht: Janusz Korczak hat mit seinem Leben bezahlt, Lilias Trotter hat darauf verzichtet, ihrer Leidenschaft nachzugehen und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vielmehr setzte sie all ihre Mittel ein, um anderen zu helfen. Und Marie Durand verbringt nicht nur einen großen Teil ihres Lebens getrennt von ihrer Familie in einem Kerker, sondern ist nach ihrer Freilassung körperlich so gebrochen, dass sie nach nur sechs Jahren in Freiheit im Alter von 62 Jahren stirbt.
Während ich einen Moment innehalte, stimmt es mich nachdenklich, wie viel Menschen bereit sind, zu geben, um das Richtige zu tun.
DER WAHRHAFTIGKEIT FOLGEN TATEN
Auch Frederick Douglass, der 1817/1818 in Gefangenschaft als Sklave in Maryland (USA) geboren wird, beschreibt Begebenheiten seines Lebens als herausfordernd und schwer:
«Manchmal erschien es mir, dass das Lesen lernen für mich eher ein Fluch als ein Segen war. Es gab mir einen klaren Blick auf meine Situation, aber keine Lösung.»
Die Gattin seines Sklavenhalters bringt ihm heimlich das Lesen bei und weckt so Ungeahntes in Douglass. Sein Drang nach innerer und äußerer Freiheit wird so groß, dass ihm schließlich – nach vielen schlimmen Erlebnissen und bereits zwei missglückten Fluchtversuchen – 1838 die Flucht gelingt.
Frederick sieht jedoch in seiner Flucht nicht nur seine persönliche Freiheit. Er ist gewillt, für die Freiheit der anderen zu kämpfen. Er wird zum Fürsprecher der noch in Sklaverei lebenden Menschen. 1847 gründet er den North Star, eine Zeitung, die sich gegen die Sklaverei ausspricht und seiner Stimme noch mehr Gehör verschaffen soll. Das Motto des North Star lautet:
«Recht ist ohne Geschlecht – Wahrheit ist ohne Farbe – Gott ist der Vater von uns allen, und wir sind alle Brüder.»
Auch heute noch ein mutiges Statement, das auch damals nicht nur Befürworter kennt und dessen Umsetzung einem langen, steinigen Weg gleicht, der auch mit Douglass’ Tod im Jahre 1895 noch nicht zu Ende gegangen ist.
Douglass sagt selbst:
«Ich ziehe es vor, mir selbst treu zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, das Gespött anderer auf mich zu ziehen, anstatt falsch zu sein und meine eigene Verachtung zu verdienen.»
HELD ÜBER NACHT?
Und? Hätten Sie das zu viel erhaltene Geld an der Kasse zurückgegeben? Ganz gleich, wie Ihre Antwort ausfällt, kennen wir doch alle die inneren Dialoge, die wir führen, wenn es darum geht, etwas zu sagen oder zu reagieren, wenn Unrecht geschieht – jemand gegen allgemeingültige Werte verstößt. Wir nennen das Zivilcourage, Mut, Loyalität oder Integrität: im Sinne der eigenen Überzeugungen handeln.
Im Leben der vier oben genannten Personen begegnet uns dieses Handeln auf unterschiedlichen Ebenen. Und wie wir schon sagten, wird unser Handeln nicht über Nacht sichtbar – doch die Schritte zu diesem Handeln werden im Vorfeld länger in uns bewegt und geformt.
Es ist ein Trugschluss, zu denken, dass wir von jetzt auf gleich bessere Menschen werden beziehungsweise Vorbilder sind. Auch als Eltern oder auf der Arbeit: Wir wachsen mit unseren Aufgaben.
So gilt es, kleine Schritte zu gehen – einen nach dem anderen – und sich dabei selbst zu beobachten und Fragen zu stellen wie:
Lebe ich meine Überzeugungen und Werte im Umgang mit mir selbst, meiner Familie und den Menschen um mich herum?
Was ist mir wichtig?
Wo erlebe ich mich selbst im Tatendrang?
Welche Themen und Ereignisse berühren und beschäftigen mich?
Ich wünsche Ihnen, dass Sie nach Überprüfung Ihrer Überzeugungen und Werte immer wieder feststellen dürfen, dass Sie sich selbst ein Vorbild sind.
„Ich ziehe es vor, mir selbst treu zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, das Gespött anderer auf mich zu ziehen, anstatt falsch zu sein und meine eigene Verachtung zu verdienen. “