Mythos Multitasking
Autor/in: Christof Sommersguter (Redakteur, Student, Lehramt Deutsch, Psychologie und Philosophie)
Ausgabe: Leben & Gesundheit, März/2019 - Prioritäten
Frauen können besser «multitasken» und Männer besser einparken. Das sind wohl zwei der gängigsten Geschlechter-Klischees. Dabei habe ich z. B. eine junge Mutter vor Augen, die, während sie ihrem Nachwuchs das Fläschchen reicht, gleichzeitig einen Arzttermin vereinbart und die Wäsche aufhängt. Wenn sie dann später während des Einparkens vor der Arztpraxis und gleichzeitigen Telefonierens mit ihrem Mann via Freisprecheinrichtung den Bordstein anfährt, ist am anderen Ende der Leitung nur ein leises «typisch!» zu hören. So überspitzt diese Klischees auch sein mögen, führen sie uns doch zum Kernproblem: In beiden Situationen erfolgreich zu sein, hätte die junge Mutter ihre Aufmerksamkeit aktiv lenken müssen. Denn dass Menschen tatsächlich mehrere Dinge gleichzeitig machen können, ist einer von mehreren Mythen, die ich in diesem Artikel widerlegen möchte.
Mein besonderer Schwerpunkt werde ich dabei auf die Auswirkungen der Mediennutzung auf unsere Aufmerksamkeitsteuerung legen.
Mythos 1 – Menschen können zwei Dinge gleichzeitig tun
Menschen können miteinander sprechen, während sie spazieren, und eine Gabel bedienen, während sie kauen. Diese Vorgänge sind automatisiert und bedürfen keines genaueren Nachdenkens. Menschen ist es aber unmöglich, sich einerseits auf ein intensives Gespräch mit dem Partner einzulassen und währenddessen ein Buch zu lesen. In einer solchen Situation hätte unser Gegenüber mit Sicherheit das Gefühl, dass wir ihm nicht unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. In der Wissenschaft beschreibt man dieses Phänomen mit der Flaschenhals-Theorie. Den Ort, an dem die Reize des Gesprächs und des Lesens in unserem Gehirn verarbeitet werden, können wir uns wie die Verjüngung eines Flaschenhalses vorstellen, durch den immer nur Reize für eine einzige Aufgabe gleichzeitig durch passen. Möchten wir uns also gleichzeitig auf das Gespräch und das Lesen konzentrieren, müssen wir unsere Aufmerksamkeit in schnell ablaufender Folge einmal auf die eine und dann wieder auf die andere Aufgabe richten. So gesehen, sind wir gar nicht des Multitaskings, sondern nur des raschen Aufmerksamkeitswechsels fähig.
Mythos 2 – Wer multitaskt, kann mehr Aufgaben in kürzerer Zeit erledigen
Der schnelle Wechsel zwischen der Verarbeitung von Reizen zweier Aufgaben bringt auch einige Kosten mit sich. Für den Wechsel benötigt das Gehirn etwas Zeit, um sich umzustellen. Untersuchungen des Gehirns haben gezeigt, dass bei jedem Wechsel zusätzliche Areale zu den regulären Verarbeitungsarealen im Gehirn aktiviert werden. Das deutet darauf hin, dass mit den häufigen Wechseln auch mehr Energie und somit potentielle Aufmerksamkeit verbraucht wird. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen: Während noch vor zehn Jahren Wissenschaftler davon ausgingen, dass sich dieser Multitasking-Vorgang trainieren lässt, stellte eine Forschergruppe im vergangenen Jahr fest, dass sogar Vierjährige einen gleich großen «Flaschenhals» wie Erwachsene und auch dieselben «Wechsel-Kosten» haben.
In einer anderen Studie untersuchten Forscher die Auswirkungen des Arbeitsverhaltens von Angestellten. Eine Gruppe sollte Aufgaben gleichzeitig erledigen, während eine andere Gruppe Aufgaben nacheinander erledigen sollte. Die Ergebnisse zeigten, dass die Multitasking-Gruppe ihre Aufgaben schlechter erledigte und noch dazu länger für sie brauchte als jene Gruppe, die ihre Aufgaben nacheinander erledigte. Männer und Frauen hatten im Übrigen dieselben Schwierigkeiten mit dem Multitasking. Wer also geistig anspruchsvolle Herausforderungen möglichst effizient bearbeiten möchte, sollte sich einen sinnvollen Plan machen und die einzelnen Aufgaben Schritt für Schritt erledigen.
Mythos 3 – Multitasking ist die Schlüssel-Kompetenz der Zukunft
Wie wir schon gesehen haben, ist Multitasking weder eine zeitsparende noch eine qualitätssteigernde Komponente. Nicht zuletzt aufgrund des vielfältigen digitalen Medienangebots für alle Lebensbereiche (z. B. Arbeit, Bildung, Unterhaltung, Kommunikation) wird entgegen den wissenschaftlichen Forschungsergebnissen Multitasking als Schlüssel-Fähigkeit der Zukunft erachtet, die die heranwachsende Generation gelernt bekommen und beherrschen sollte. Daraus ergeben sich u. a. auch Fragen für unser Bildungswesen.
Medien-Multitasking bezeichnet das Ausführen von mindestens zwei Aktivitäten gleichzeitig, von denen zumindest eine auf Medien gestützt ist. Als Beispiel kann das Schreiben von Nachrichten während des Fernsehens gelten.
Digitale Medien in Lernzusammenhängen motivieren und lenken ab.
Der Begriff Multitasking
Der Begriff Multitasking kommt eigentlich aus den Computerwissenschaften. Der Prozessor stellt die zentrale Verarbeitungseinheit (CPU) in einem Computer dar und ist mit unserem Gehirn vergleichbar. Hat der Prozessor eines Computers z. B. 2 GHz, so kann er 2 Milliarden Befehle in der Sekunde ausführen. Genauso wie das menschliche Gehirn kann ein Prozessor aber immer nur einen Befehl gleichzeitig bearbeiten. Um dieses Problem zu lösen, hat man in neuere Computer mehrere Prozessorkerne eingebaut. Somit kann ein Computer «multitasken», das menschliche Gehirn aber nicht.
Positive Auswirkungen
Der Umgang mit digitalen Medien erweitert die visuell-räumlichen Fähigkeiten. Die größte Wirkung erzielen dabei Videospiele. Für einen kurzen Zeitraum können digitale Medien zu erhöhter Lernmotivation führen. Wenn aber von den Lernenden erkannt wird, dass auch das Lernen mit digitalen Medien reflektiertes Nachdenken voraussetzt und sich nicht automatisch einstellt, verschwindet dieser Motivationseffekt bedingt durch das Neuartige des Digitalen wieder schnell.
Negative Auswirkungen
Die Verwendung von digitalen Medien während des Lernens führt zu schlechterer Lernqualität und längeren Bearbeitungszeiten (vgl. Mythos 2). Dabei ist auch das Ablenkungspotential nicht zu unterschätzen. Eine Verwendung während des Unterrichts führt bei den Lernenden zu einem signifikant schlechteren Notendurchschnitt. Werden digitale Medien während der Hausaufgaben verwendet, verlängert sich die Bearbeitungszeit (exkl. Zeit für die Mediennutzung) beträchtlich. Mädchen bevorzugen das Schreiben von Nachrichten und die Verwendung von sozialen Netzwerken. Jungen verwenden Medien eher zur Informationsgewinnung und für Videos. Sind soziale Medien allerdings Teil einer Aufgabenstellung im Rahmen des Unterrichts, verlieren sie ihren negativen Einfluss. Das zeigt, wie wichtig es ist, ein disziplinierter Umgang mit Medien zu finden.
Medien-Multitasking führt unter neuen Aufträgen in den Denkleistungen (Metakognition) häufig zu Schwächen: die Verarbeitung eines abstrakten Wortschatzes, Achtsamkeit, Reflexionsfähigkeit, induktives Problemlösen (vom Einzelnen auf das Allgemeine schließend), kritisches Denken, Vorstellungskraft und Fantasie eine größere Herausforderung als bisher darstellen. Medien-Multitasking unterdrückt die Metakognition, die Anwendung angemessener Lernstrategien und die Selbst-Regulation. Es führt zu weniger Selbstvertrauen und zu Ängstlichkeit bei den Betroffenen. Diese Dimensionen lassen auch eine gesundheitliche Beeinträchtigung erahnen.
Nehmen Sie sich eine Stoppuhr, ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Stoppen Sie nun, wie lange Sie brauchen, um die Wortfolge «Multitasking ist ein Dieb» und die Zahlenfolge von 1–22 nacheinander zu notieren. Stoppen Sie anschließend abermals, wie lange Sie benötigen, dasselbe zu notieren – diesmal jedoch immer abwechselnd einen Buchstaben und eine Zahl. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um das Ergebnis zu betrachten. Dieser Versuch zeigt Ihnen, was beim vermeintlichen Multitasking passiert. Sie brauchen für die Aufgabe mehr Zeit, die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers erhöht sich, und Sie erleben mehr Stress.
Mythos 4: Alles unter Kontrolle
Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass sich starke Medien-Multitasker im Durchschnitt weniger als sechs Minuten einer Aufgabe widmen, ehe sie sich einer medialen Ablenkung hingeben. Neben der offensichtlichen Arbeits- oder Lerneffizienz stellt sich die Frage nach dem Suchtpotential der Medien. In den Studien zu Medien-Multitasking in Lernkontexten geben die befragten Kinder und Jugendlichen immer wieder an, dass sie gewisse Webseiten weder aufgrund einer bewussten Entscheidung noch aufgrund einer Push-Mitteilung dieser Seite aufsuchen. Stattdessen folgen sie unbewusst einfach ihrer Gewohnheit, und ihnen wird erst nach einigen Minuten bewusst, was sie gerade tun.
Eine andere Studie konnte belegen, dass jemand, der sich ziellos im Internet treiben lässt, mehr Suchtverhalten entwickelt. Ein direkter negativer Einfluss auf das Lerninteresse, die Konzentrationsfähigkeit, akademische Leistungen und die Pflege sozialer Kontakte konnte nachgewiesen werden. Durch selbstkontrolliertes Verhalten lässt sich diese Sucht jedoch in den Griff bekommen. Selbst-Kontrolle ist die Fähigkeit, die eigene Reaktion auf Impulse zu verändern und mit Idealen, Werten und sozialen Erwartungshaltungen in Übereinstimmung zu bringen. Das hilft uns, langfristige Ziele verfolgen zu können. Es lassen sich zwei Formen unterscheiden:
1. Initiierende Selbst-Kontrolle, d. h., sich so zu verhalten, dass Ziele erreicht werden können (z. B. sich auf das Lernen für eine Prüfung zu konzentrieren).
2. Vermeidende Selbstkontrolle, d. h., sich so zu verhalten, dass unerwünschte Verhaltensweisen vermieden werden (z. B. Versuchungen und Impulsen zu widerstehen, im Internet zu surfen oder den Social-Media Account während des Lernens zu überprüfen).
Die überraschende gute Nachricht ist: Medien-Multitasker können gleich gut unerwünschte Impulse unterdrücken wie andere. Die schlechte Nachricht ist: Medien-Multitasker haben wesentlich mehr Schwierigkeiten damit, zielgerichtete Handlungen zu setzen. Medien-Multitasking verwandelt einen nicht unbwendbar in einen hilflos impulsgesteuerten Menschen. Es führt jedoch zu mehr ziellosem Handeln.
„So gesehen, sind wir gar nicht des Multitaskings, sondern nur des raschen Aufmerksamkeits - wechsels fähig.“